Corinna RüfferDIE GRÜNEN - Vereinbarte Debatte Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bentele! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bentele, ich danke Ihnen erst einmal sehr, dass Sie ganz viele Forderungen, die wir alle, die wir fachlich mit dem Bereich der Behindertenpolitik beschäftigt sind, teilen, genannt haben. So muss ich sie nicht mehr nennen. Wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, teilen das zu 100 Prozent.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])
Ich möchte meine beschränkte Redezeit darauf verwenden, auch Sie, Frau Bentele, in die Niederungen der parlamentarischen Arbeit zu entführen. Stellen Sie sich alle einmal bitte Folgendes vor: Sie besuchen eine fremde Stadt und suchen, sagen wir mal, eine Jugendherberge. Die Frau, die mit einem Stadtplan in der Hand dort steht, antwortet Ihnen auf Ihre Frage: Ich bin gerade in einem Beteiligungsprozess mit einer Reihe von Expertinnen und Experten. Über den Weg zur Jugendherberge reden wir in einer Woche. Über den Verlauf unseres Gespräches informiere ich Sie gerne über das Internet. Hier ist die Adresse. – Jetzt würden Sie wahrscheinlich nachfragen: Können Sie mir denn nicht jetzt schon sagen, welcher Weg aus Ihrer Sicht der gute, der beste ist? Sie haben doch einen Stadtplan in der Hand. Welche Möglichkeiten gäbe es? – Wenn sich die Dame ein Beispiel an unserer Bundesregierung nehmen würde, würden Sie auf diese Frage keine Antwort bekommen.
So erging es meiner Fraktion zuletzt vorgestern, als wir einige inhaltliche Nachfragen zum geplanten Teilhabegesetz gestellt haben. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus SPD und Union, haben sich vorgenommen, Teilhabeleistungen für Menschen mit einer wesentlichen Behinderung aus dem Fürsorgerecht zu lösen. In diesem Zusammenhang sollen auch die Kommunen finanziell entlastet werden. Das ist gut. Wir wollten nun von der Bundesregierung wissen, wie sie beides miteinander verknüpfen möchte, und haben, wie es hier so üblich ist, eine Kleine Anfrage gestellt. Mehr als erstaunt mussten wir aber feststellen: Ein Jahr nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags ist die Bundesregierung nicht in der Lage, eine einzige inhaltliche Frage zu ihrer Reform zu beantworten. Was wären Vor- und Nachteile eines bestimmten Vorschlags für behinderte Menschen? Was wären die Vor- und Nachteile für Bund, Länder und Kommunen? Die Bundesregierung verrät es nicht. Sie möchte zumindest mit uns nicht darüber sprechen.
Und warum nicht? Da wird es jetzt interessant: Sie begründet ihre Verweigerung, die Vor- und Nachteile verschiedener Vorschläge zu beschreiben, damit, dass sie ihrem Beteiligungsprozess nicht vorgreifen möchte. Sie habe sich verpflichtet, Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände am Gesetzgebungsprozess zu beteiligen.
(Zuruf von der SPD: Genau!)
Das finde ich sehr gut.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)
Es ist eine sinnvolle Selbstverpflichtung, diejenigen zu beteiligen, die hinterher vom Ergebnis betroffen sein werden.
(Zuruf der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])
Genauer beschreibt das Artikel 4 der viel zitierten Behindertenrechtskonvention, aus der ich jetzt zitieren möchte:
So wird aus der Selbstverpflichtung ganz schnell eine völkerrechtliche Verpflichtung.
Es ist gut, wenn sich die Bundesregierung an völkerrechtliche Verpflichtungen hält; meinetwegen darf sie diese auch als Selbstverpflichtungen verkaufen. Es ist aber nicht gut, wenn sie sich die Freiheit herausnimmt, inhaltliche Fragen nicht mehr mit den Abgeordneten dieses Hauses zu besprechen und zu debattieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Es reicht nicht aus, wenn wir hier nur deshalb eine Debatte führen, weil heute der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung ist. Wir sollten Debatten führen, in denen wir über Lösungen streiten. Diese Debatten können nicht nur in einer AG in einem Ministerium geführt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Für uns Grüne ist klar: Der Bund muss die Finanzierung der Teilhabeleistungen anteilig übernehmen, systematisch und dauerhaft. Wir haben darüber hinaus in diesem Jahr weitere Reformvorschläge unterbreitet. Wir möchten ein Sofortprogramm für Barrierefreiheit und gegen Diskriminierung. Wir möchten eine echte Wahl zwischen einem Arbeitsplatz in einer Werkstatt für behinderte Menschen und einem Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt ermöglichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Über einige unserer Vorschläge wird diese Woche hier abgestimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der SPD, stimmen Sie zu! Hören Sie auf, die Beteiligung behinderter Menschen an diesem Reformprozess vorzuschieben, um sich vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Opposition zu drücken!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)
Es ist nicht nur legitim, sondern es ist auch gut, dass die Bundesregierung mit Verbänden, mit den Rehaträgern, mit Vertretern aus Ländern und Kommunen über diese Reform berät. Genauso legitim, sinnvoll und gut ist es, im Parlament über verschiedene Wege zu guten Lösungen zu streiten, und zwar nicht erst zu dem Zeitpunkt, zu dem die Meinungsbildung abgeschlossen ist. Man nennt das Demokratie.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wollen Sie eine Kurzintervention dazu machen, Herr Dr. Rosemann? – Bitte.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4216159 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 72 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen |