03.12.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 72 / Tagesordnungspunkt 1

Kerstin TackSPD - Vereinbarte Debatte Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen

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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Verena Bentele, vor fünf Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention hier in Deutschland ratifiziert worden. Das war ein ganz wesentlicher Meilenstein für die Interessen der behinderten Menschen und ihre Rechtsstellung in Deutschland.

Die Inklusion, die mit der UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland Einzug gehalten hat, ist ein Paradigmenwechsel gewesen; denn bisher hatten wir im Rahmen der Integration immer gefragt: Was muss der einzelne Mensch tun, um in ein bestehendes System integriert zu werden? Mit der Inklusion drehen wir diese Fragestellung um und fragen: Wie müssen sich die Systeme verändern, damit jeder an und in ihnen teilhaben kann? Das alleine war schon ein wesentlicher Baustein, um Inklusion auch in Deutschland inhaltlich zu begründen.

Wenn wir uns angucken, wo wir heute, nach fünf Jahren UN-Behindertenrechtskonvention, stehen, dann stellt sich zum einen die Frage: Was müssen wir gesetzlich regeln? Welchen Auftrag haben wir für die Definition eines Handlungsrahmens? Zum anderen geht es um die Frage: Wie ist es um das Bewusstsein in der Gesellschaft für eine inklusive und damit eine sich öffnende Gesellschaft bestellt?

Im November wurde eine Studie des Allensbacher Instituts veröffentlicht, die im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe durchgeführt wurde. Sie enthält erfreuliche und weniger erfreuliche Ergebnisse: 22 Prozent sagen, sie haben von der UN-Behindertenrechtskonvention noch nichts gehört. Das sind ganz schön wenige. 40 Prozent sagen, dass sie in ihrem Familien-, Bekannten- oder Verwandtenkreis entsprechende Kontakte haben. Aber 50 Prozent geben an, Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen zu haben, insbesondere gegenüber Menschen mit einer geistigen Behinderung, und gar 62 Prozent sagen, sie glauben, dass eine gesellschaftliche Teilhabe nur beschränkt möglich ist.

Daran erkennen wir, wie groß die Notwendigkeit ist, dass wir unsererseits gute Rahmenbedingungen schaffen, aber auch, wie sehr eine entsprechende Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft erforderlich ist, damit wir mit unserem Gesamtanliegen – mit beiden Bereichen – weiterkommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb haben wir uns auch in dieser Legislaturperiode beeindruckend viel vorgenommen: Das BGG wird verändert, wir werden für die Barrierefreiheit einiges tun, wir werden das AGG bearbeiten, und wir werden im Petitionsausschuss Barrierefreiheit herstellen. An über 20 Stellen des Koalitionsvertrages stehen konkrete Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen; dies werden wir umsetzen.

Das wichtigste Vorhaben wird aber sicherlich das Bundesteilhabegesetz sein. Es wird sich daran messen lassen müssen, ob damit tatsächlich ein Paradigmenwechsel vollzogen wird – hin zu der Sichtweise des versorgenden, des fürsorgenden Staates – und ob wir die Teilhabe, die Selbstbestimmung und das Wunsch- und Wahlrecht tatsächlich in geltendes Recht umsetzen können und damit im Sinne der Menschen mit Behinderungen in unserem Land einen wirklich echten Schritt vorwärtskommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb haben wir uns vorgenommen, innerhalb des Gesetzes klar zu sagen: Das Wunsch- und Wahlrecht ist das A und O, wenn es darum geht: Wie will ich leben? Wo will ich leben? Wo und wie will ich arbeiten? Wo möchte ich mich gesellschaftlich beteiligen? Wir sagen: Das Wunsch- und Wahlrecht ist die wesentliche Voraussetzung für die Gewährleistung von Teilhabe. Deshalb steht das ganz klar im Fokus und im Grunde genommen als Überschrift über dem Gesetz.

Wir sagen aber auch: Wir wollen, dass die Geldleistungen zur Teilhabe entsprechend den Wünschen an die jeweiligen Personen und nicht einrichtungszentriert ausgezahlt werden. Für uns ist völlig klar, dass es in Deutschland keine unterschiedliche Bedarfsermittlung geben kann, wenn es um die entsprechenden Belange geht. Egal ob ich in Berlin oder in Bayern lebe: Es muss eine Standardisierung bei der Frage geben, wie eine Bedarfsermittlung vorzunehmen ist. Wir müssen weg von über 600 Verfahren zur Bedarfsermittlung, die es im Moment gibt.

Einer der wesentlichen Punkte sind an dieser Stelle bundeseinheitliche Standards für eine gute, flächendeckend in Deutschland angewandte einheitliche Bedarfsermittlung; diese brauchen wir dringend.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Frau Bentele hat es schon sehr deutlich gesagt, und auch uns geht es darum, dass Einkommen und Vermögen für den Nachteilsausgleich eingesetzt werden, also für die soziale Teilhabe, und nicht für den Lebensunterhalt. Das ist unser Anliegen. Wir wollen die soziale Teilhabe gewähren, unabhängig von Einkommen und Vermögen.

(Beifall bei der SPD)

Außerdem wollen wir selbstverständlich ein Recht auf Sparen. Warum auch nicht? Jeder, der arbeitet – das gilt auch für eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen –, muss das Recht haben, Geld zurückzulegen. Das halten wir für selbstverständlich. Deshalb werden wir an diese Sache herangehen. Wir haben hier die Schnittstellen zur Pflege und zur Gesundheitsversorgung sowie zum SGB VIII im Blick; das ist bereits gesagt worden.

Ich will zum Schluss sagen, dass wir von den Ländern enttäuscht sind, die sich bei der Arbeits- und Sozialministerkonferenz in der vergangenen Woche mit großer Mehrheit dagegen entschieden haben, sich an einem Fonds für Kinder aus Heimen der Behindertenhilfe zu beteiligen. Wir erwarten, dass es in dieser Richtung Bewegung gibt. Genauso wie wir einen Fonds für die Kinder aus Erziehungsheimen in Ost und West eingerichtet haben, wollen wir auch für behinderte Kinder einen entsprechenden Fonds erreichen; selbstverständlich. Deswegen ist unsere deutliche Erwartung an die Länder, sich hier nicht aus der Solidarität und der Gemeinschaftsaufgabe zu verabschieden, sondern für eine gute Ausstattung des Fonds zu sorgen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Frau Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4216187
Wahlperiode 18
Sitzung 72
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen
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