Aydan ÖzoğuzSPD - Aufnahme von Flüchtlingen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es wurde schon einige Male zu Recht gesagt, Frau Amtsberg: Deutschland und Europa stehen als große Wirtschaftskräfte vor großen flüchtlingspolitischen Herausforderungen. Wenn man auf die Menschenrechtskrisen in Syrien, aber auch im Irak, in Afghanistan und Eritrea schaut – wenn ich den Blick weiterschweifen lassen würde, könnte ich noch mehr Staaten aufzählen –, dann ist unbestritten, dass wir uns mittelfristig auf mehr Asylsuchende einstellen und den bevorstehenden Herausforderungen gerecht werden müssen. Wer aus purer Not wegen Krieg, Terror oder Verfolgung flieht, muss bei uns Schutz finden.
(Beifall im ganzen Hause)
Er muss menschenwürdig behandelt werden, muss seine Fluchtgeschichte darlegen können und gegebenenfalls auch dauerhaften Schutz erhalten.
Ich empfinde die heutige Debatte als sehr angenehm. Ich möchte aber daran erinnern, dass das im Deutschen Bundestag nicht immer so gewesen ist. Wir haben lange Jahre anders gesprochen. Wir haben über Asylrecht und Asylmissbrauch gesprochen, und zwar auch in Fällen, in denen das nicht gerechtfertigt war. Es wurden Gesetze verschärft und Arbeitsverbote verhängt. Die Unterbringung in Sammelunterkünften wurde sogar vorgeschrieben; denn das erklärte Ziel war, den Schutzsuchenden eben nicht hier eine Heimat zu bieten, sie hier nicht heimisch werden zu lassen. Wir haben nicht gesagt: Kommt zu uns! – Ja, wir lernen aus der Vergangenheit. Wir tun gut daran und sollten deutlich zum Ausdruck bringen, dass jeder, der hier Schutz für sich, seine Familie und seine Kinder sucht, eine Perspektive erhält. Es ist also richtig, den betreffenden Menschen sehr früh die Zugänge zu unserer Gesellschaft zu öffnen, zu Arbeit und Beschäftigung, zu Sprachkursen und Schulen. Dann können aus Flüchtlingen tatsächlich neue Nachbarn werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich bin dankbar für die große Hilfsbereitschaft und Solidarität in unserer Bevölkerung. Die Kirchen, Flüchtlingsinitiativen, insbesondere die vielen Ehrenamtlichen – das habe ich hier schon einmal erwähnt – leisten in diesen Wochen und Monaten Großartiges. Wir müssen dieses Engagement noch stärker wertschätzen, und wir müssen es auch unterstützen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Grund dafür, dass ich dieser Debatte ausnahmsweise nicht bis zum Ende folgen kann, ist – ich sage es bewusst an dieser Stelle –: Ich habe schon vor Wochen Flüchtlingsinitiativen und Ehrenamtliche genau zu 11 Uhr ins Bundeskanzleramt eingeladen,
(Dr. Eva Högl [SPD]: Das schaffst du nicht mehr!)
um mit ihnen gemeinsam zu erörtern, was wir tun können, um sie zu unterstützen, um sie besser zu vernetzen. Sie waren natürlich sofort einverstanden, dass ich hier noch meine Rede halte. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich wegen dieser Einladung heute etwas früher gehe.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn wir über die Große Anfrage und den Antrag der Grünen debattieren – meine Kolleginnen und Kollegen werden noch darauf eingehen –, dann müssen wir auch festhalten, dass unser Land über Bundeskontingente bereits 20 000 syrische Staatsangehörige aufgenommen hat. Es sind mittlerweile, seit 2011, 70 000 syrische Staatsangehörige hier. Bund und Länder handeln gemeinsam, erfreulicherweise in großem Einvernehmen und über Parteigrenzen hinweg. Das Auswärtige Amt hat die Mittel für humanitäre Hilfe in der Region gestern noch einmal um 40 Millionen Euro erhöht – Frau Amtsberg hat das erwähnt –; denn wir wissen alle, dass einige Millionen Menschen in der Region – in der Türkei, in Jordanien, im Libanon – auf der Flucht sind.
Wir dürfen aber auch unsere europäischen Partner nicht aus der Verantwortung entlassen, für die Flüchtlinge und Vertriebenen des syrischen Bürgerkrieges einzustehen.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Auch als ich zur Europäischen Grundrechtecharta reden durfte, wurde mir klar: Es reicht nicht, zu hören, dass Deutschland und Schweden eine tolle Arbeit machen. Das wird immer wieder gesagt, und dafür wird auch gedankt. Wir müssen schon sagen, dass auch von anderen EU-Staaten ähnliche Anstrengungen erwartbar sind.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Zustand, dass in der EU fünf Staaten 75 Prozent der Schutzsuchenden aufnehmen, kann uns nun nicht dazu verleiten, von einer europäischen Solidarität zu sprechen. Sagen wir es einmal positiv: Die Solidarität ist ausbaufähig.
(Rüdiger Veit [SPD]: Das ist milde ausgedrückt!)
Insofern überzeugt es nicht, wenn wir mit Blick auf Italien die dortigen Registrierungsdefizite als größtes Problem des gemeinsamen europäischen Schutzsystems ausmachen. Wir müssen da einfach zu mehr Verantwortung aufrufen. Klar ist auch: Wir müssen in Europa alles tun, damit die Asyldiskussion nicht und niemals mehr auf dem Rücken der Schutzsuchenden ausgetragen wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Große Koalition hat bereits im ersten Jahr viele Maßnahmen umgesetzt. Einige sind schon genannt worden; deswegen mache ich es ganz kurz: Das Personal des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurde aufgestockt. Es reicht immer nicht – das wissen wir alle –; aber 300 Leute einzuarbeiten, das geht nicht in drei Monaten. Das muss man ein bisschen realistisch sehen. Die Asylverfahren werden mit Blick auf Asylsuchende mit hohen Anerkennungschancen optimiert. Aussichtsreiche Verfahren sollen vorgezogen werden können. Das hatte ich übrigens auch in meinem zehnten Bericht zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer gefordert. Die Verbesserungen beim Arbeitsmarktzugang sind wichtig; er ist nun nach 15 Monaten Aufenthalt zum Teil sogar ohne Vorrangprüfung möglich. Das Asylbewerberleistungsgesetz passierte final den Bundesrat. Damit ist die Zusage verbunden, dass der Bund die Länder mit bis zu 1 Milliarde Euro entlastet. Hoffentlich kommt diese Entlastung am Ende auch bei den Kommunen an. – Ohne die Unterstützung der Grünen wären viele der genannten Punkte nicht möglich gewesen; das möchte ich an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen.
Gestern haben wir im Bundeskabinett die stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung für Geduldete verabschiedet. Für diesen Teil des Gesetzes haben viele hier im Haus Jahre und Jahrzehnte gekämpft, übrigens gemeinsam mit Kirchen und Sozialverbänden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Das parlamentarische Verfahren steht noch an. Deswegen müssen wir die Diskussion darüber nicht heute führen.
Die Residenzpflicht wird ebenfalls abgeschafft. Dazu möchte ich nur sagen: Sie wissen, dass ich am 18. Dezember 2014, am von den Vereinten Nationen ausgerufenen Internationalen Tag der Migranten, einen Empfang gebe. Ich bin all denen von Ihnen sehr dankbar, die jeweils eine Person angemeldet haben, die sich besonders für Flüchtlinge engagiert. Die Veranstaltung ist mittlerweile voll; das haben die gemerkt, die mit ihrer Anmeldung zu spät kamen. Es ist eine schöne Sache, wie ich finde, dass zufällig – das konnte man nicht voraussehen – gleichzeitig eine weitere Syrien-Konferenz im Auswärtigen Amt tagt. Wir sind guter Dinge, dass wir dort allen wirklich ein sehr schönes Dankeschön sagen können.
Es wurden auch einige angemeldet, die selber Flüchtlinge sind, aber schon lange im Land leben und der Residenzpflicht unterliegen. Nun muss ich allen Ernstes Briefe schreiben des Inhalts, dass das hier eine ordentliche Veranstaltung ist und doch bitte die Residenzpflicht für diese Menschen aufgehoben wird. Die Absurdität wird da einfach noch einmal besonders deutlich. Ich bin froh, dass wir das nun bald hinter uns lassen werden.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zu guter Letzt möchte ich die Aufmerksamkeit noch auf eine Gruppe lenken, nämlich auf die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Sie sind, wie es naheliegt, ohne Erziehungsberechtigte eingereist. Wir dürfen, glaube ich, nicht vergessen, dass es sich bei den Beweggründen für das Verlassen der Heimat um sogenannte kinderspezifische Fluchtgründe handelt. Solche Begriffe sagen eigentlich wenig über das aus, was dahintersteht: drohende Zwangsrekrutierung als Kindersoldat, Gefahr von Entführung, bei Mädchen die anstehende Genitalverstümmelung oder Zwangsverheiratung. Wir alle kennen das. Deswegen sind wir in der Pflicht, dem Kindeswohl und den besonderen Bedürfnissen dieser jungen Menschen – es sind zum Teil stark traumatisierte Minderjährige – gerecht zu werden.
Ja, es gibt auch Kriminalität bei einigen; das will ich überhaupt nicht verhehlen. Nur, was mich nach wie vor ärgert, ist: Wenn das einmal vorkommt, dann entsteht das Bild, alle seien so oder latent so. Dabei gibt es die anderen, die nun gerade darum kämpfen, etwas Besseres zu machen. Wir wissen, wie viele ihre Chance wahrnehmen, hier ein geregeltes Leben zu führen, eine Ausbildung zu machen. Wir haben soeben die Ausbildungsförderung auch für diese Gruppe viel schneller möglich gemacht. Gerade für diejenigen müssen wir einfach deutlich machen: Wir wollen, dass sie ein halbwegs faires und gutes Leben führen können und nicht immer mit den anderen unter einen Generalverdacht gestellt werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir wissen, dass die Zahlen kontinuierlich zugenommen haben und dass wir auch noch eine Debatte darüber führen müssen, wie wir das Kindeswohl im Blick behalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir die Regelungen, die bestehen und die in meinen Augen dem Kindeswohl nicht gerecht werden – ich denke an den Fall, dass sich furchtbar viele an einem Ort tummeln –, verändern.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich als Beauftragte an dieser Stelle noch einen Satz sagen, der gar nichts oder fast nichts mit diesem Thema zu tun hat. Es ist mir ein Bedürfnis, heute Morgen hier einmal den Namen Tugce Albayrak zu nennen,
(Beifall im ganzen Hause)
den Namen der Frau, die für unsere Werte eingestanden ist und so Furchtbares erlebt hat. Der Familie, die wirklich unermessliches Leid erfahren hat, möchte ich hier unser Mitgefühl aussprechen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. Danke auch für das Erinnern an den Mut und die Zivilcourage von Tugce!
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Nächste Rednerin in der Debatte: Nina Warken für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4221085 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 73 |
Tagesordnungspunkt | Aufnahme von Flüchtlingen |