Katrin Göring-EckardtDIE GRÜNEN - Regierungserklärung zum Europäischen Rat
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Thomas Oppermann, ich weiß nicht, was Sie nächstes Jahr vorhaben, wir jedenfalls denken, dass wir auch das Jahr 2015 im Parlament gemeinsam verbringen werden. Was mich, ehrlich gesagt, am meisten erschüttert, ist das, was ich sehe, wenn ich mir Ihre Koalition am heutigen Tag anschaue. 80 Prozent haben Sie angeblich geschafft. Ich kann nur sagen: Was wir heute gesehen haben, bedeutet, dass Sie zu 100 Prozent fertig sind. Sie sind fertig miteinander.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was?)
– Sorry, aber wenn man sich anschaut, wer für wen klatscht, dann kann man nur feststellen: Noch nicht einmal die erste Reihe in der SPD-Fraktion klatscht, wenn die Bundeskanzlerin etwas sagt. Noch nicht einmal die erste Reihe in der Unionsfraktion klatscht, wenn Herr Oppermann etwas sagt, außer wenn er etwas sagt, bei dem fast alle klatschen können.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie müssen einen Schatten auf der Pupille haben! –Christian Petry [SPD]: Falsche Wahrnehmung!)
Diese Koalition hat offensichtlich nichts mehr vor. Was Sie abgearbeitet haben, ist auf Ihrem Konto. Aber was Sie nicht gemacht haben, ist, sich auf irgendeine Weise mit der Zukunft zu beschäftigen; das haben Sie heute Morgen erneut gezeigt. Draußen regt sich eine außerparlamentarische Opposition aus Rechtspopulisten, verunsicherten Modernisierungsverlierern und denen, die sich eingerichtet haben und keine Veränderung wollen; diesen reden Sie nach dem Mund.
Ihre Politik der asymmetrischen Demobilisierung hat ihr erstes Opfer gefunden, nämlich die Demokratie.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])
Eine Demokratie, in der nicht mehr um politische Alternativen gestritten wird, verliert an Sauerstoff. Sie verschweigen PEGIDA seit Monaten. Sie versuchen, die AfD zu verschweigen.
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)
Sie verschweigen Thilo Sarrazin. Sie verschweigen Pro NRW.
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)
Hier geht es aber nicht um Verschweigen, Frau Merkel, hier geht es um Haltung, und hier geht es um Klarheit.
Ich sage Ihnen, Herr Oppermann, eines klar: Ich habe kein Verständnis für Mitläufer.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])
Wer sich hinter solche Plakate stellt, der weiß ganz genau, was er tut. Dem sagen wir eindeutig: Nein, das ist nicht unsere Vorstellung von demokratischer Kultur, das ist nicht unsere Vorstellung vom Umgang in diesem Land.
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ich sage nur: Thüringen!)
Ja, ich nehme die Sorgen der Menschen ernst. Aber ehrlich gesagt: So viele Sorgen der Menschen, die hier in dieser Woche ernst genommen worden sind! Ich sage Ihnen mal, an wen ich denke, wenn ich Sorgen ernst nehme. Dann denke ich nicht an die Leute, die in Dresden im Pelzmantel auf die Straße gegangen sind. Ich denke an diejenigen, die in Syrien mit ein paar letzten Kleidern versucht haben, ihr Leben zu retten und sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])
An einer Stelle will ich Herrn Oppermann recht geben: Ja, die Union hat sich jahrelang der Erkenntnis verweigert, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Dann hat sie angefangen, sich widerstrebend dieser Tatsache zu stellen. Aber was wir nicht tun, ist, dass wir tatsächlich über Zuwanderung reden, dass wir über diese Gesellschaft als ein gemeinsames Land reden, dessen Zuwanderungskonzept auf dem Tisch liegt.
Sie wissen doch ganz genau, wie die Situation in Syrien, im Irak und in dem gesamten Krisengebiet ist. Natürlich werden diese Menschen hierbleiben. Womöglich wird der eine Friedensnobelpreisträger oder Literaturnobelpreisträger, und vielleicht wird der andere irgendwann einmal als Ingenieur unsere Flughäfen bauen. Das kann alles sein. Diese Menschen gehören hierher. Sie werden hierbleiben, und deswegen müssen wir jetzt darüber reden, wie wir in diesem Land zusammenleben wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Gysi, das Weltbild, das Sie heute hier an diesem Pult zutage gefördert haben, ist wirklich nichts anderes mehr als eine ganz große Weltverschwörung. Glauben Sie eigentlich, dass Sie damit irgendeinen der Verunsicherten, von denen Sie geredet haben, hinter dem Ofen hervorlocken? Glauben Sie, dass Sie damit irgendjemanden beruhigen? Sie blinken auf der einen Seite nach ganz links, Sie blinken auf der anderen Seite nach ganz rechts. Die Leute, die Mitläufer sind, geben ganz locker Russia Today ein Interview. Nein, der Demokratie nutzt man auch mit der großen Weltverschwörung nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU-Kommission ist gerade erst gestartet. Als Grüne sage ich: Sie hat in der Umweltpolitik ein veritables Rollback hingelegt. Frau Merkel, Sie loben sie noch dafür, dass die Kreislaufwirtschaftspakete gestoppt werden, dass das Programm „Saubere Luft für Europa“ gestoppt wird. Das ist eine Bankrotterklärung für die Umweltpolitik in Europa. Ich finde, wir hätten in Deutschland eine andere Aufgabe.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber einmal unabhängig davon: Gleichzeitig setzt der Kommissionspräsident mit dem Investitionspaket ein wichtiges Zeichen für die Länder Europas. Er sagt: Wir wollen es gemeinsam tun. – Auch unabhängig davon, wie man das Investitionspaket im Detail findet: Jean-Claude Juncker ist damit ein neues und gar nicht so unwichtiges Signal gelungen. Er zeigt nämlich: Es soll eine Vision für ein gemeinsames Europa geben. Davon war heute Morgen in Ihrer Rede, Frau Merkel, nichts zu spüren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deswegen sage ich Ihnen: Sie haben sich jahrelang dagegen gewehrt, dass es Zinsgarantien für unsere europäischen Nachbarn gibt, nach dem Motto: Selber schuld, wer nicht auf die Füße kommt. – De facto sind wir in Deutschland auch deswegen Exportweltmeister, weil der Süden Europas keine Kredite mehr erhält. Sie können auf dem europäischen Gipfel mit einem Schlag dafür sorgen, dass die griechischen Windkraftbetreiber endlich investieren können, und zwar ohne dass es uns wirklich etwas kostet. Nach welchem Prinzip sollte es denn logisch sein, dass die Griechen zu hohen Preisen dreckige Kohle importieren müssen, während es Sonne und Wind umsonst gibt?
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Märchen!)
Europa hat sich im Lissabon-Vertrag das Versprechen gegeben, zur dynamischsten Region zu werden. Im Moment sind wir die ängstlichste Region der Welt. Frau Merkel, Sie bewundern doch Länder wie Neuseeland und Kanada, in denen Zukunftsoptimismus und Einwanderung zur wirtschaftlichen und kulturellen Dynamik im Rahmen der Wertegemeinschaft führen. Wieso werben Sie dann nicht hierzulande für eine solche Gesellschaft?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Investitionspaket ist ein zaghafter Schritt heraus aus der Agonie.
Ich habe Herrn Oppermann zugehört, der die Investitionen hier wie verrückt gelobt hat. Was ich von der Bundesregierung, insbesondere von Herrn Gabriel, sehe, ist das Gegenteil: Erst hat Herr Gabriel breitbeinig erklärt, das sei quasi sein Investitionsprogramm, und dann duckte man sich weg, weil man irgendwie in Kauf nimmt, dass die spanischen und die griechischen Mittelständler für die Konsolidierung des Haushalts in Deutschland verantwortlich sein müssen. Nein, das ist kein Kollateralschaden; das ist falsche Politik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das habe ich jetzt gar nicht verstanden! Sagen Sie es noch einmal! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das kapiert niemand! – Zuruf von der SPD: Was ist das für ein Quatsch!)
Was ich nicht verstehe: Sie feiern sich hier monatelang für eine Haushaltspolitik, und gleichzeitig stellen Sie alle Investitionen in diesem Land auf Sparflamme. Bröckelnde Brücken und schleichende Züge, das ist das Bild von Deutschland im Jahr 2014.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Gucken Sie doch mal in unseren Haushalt rein! Dann werden Sie schlauer!)
Das ist doch verrückt. Was machen Sie dann? Sie schicken eine Wunschliste nach Brüssel, eine Wunschliste, die 90 Milliarden Euro schwer ist, nach dem Motto: Wir geben zwar nichts, aber was man hat, das hat man. Ihre Wunschliste ist in diesem Haus niemals diskutiert worden. Ja, wo sind wir denn eigentlich?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie schicken Wünsche nach Brüssel, und das Parlament wird nicht beteiligt, so nach dem Motto: 80 Prozent der Wählerstimmen – Arroganz der Macht –, wir brauchen das ja nicht mehr.
Sie haben die Wirtschaftslobbyisten einbezogen, aber nicht das Parlament. Auf der Liste, die Sie nach Brüssel geschickt haben, stehen keine Zukunftsinvestitionen. Da stehen die alten deutschen Darlings der falschen Investitionen. Darauf stehen Mittel zur Erneuerung alter Autobahnen. Da steht nichts von Klimaschutz, da steht nichts von Energiewende; da kann Frau Hendricks in Lima so viel Ringelpiez mit Anfassen machen, wie sie will. Ich sage Ihnen: Wenn man tatsächlich investieren will, dann nimmt man hier 12 Milliarden Euro in die Hand und investiert in die richtigen Projekte, und zwar in die gemeinsamen europäischen; um die geht es nämlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Merkel, liebe Große Koalition, sagen Sie endlich, worum es in den nächsten Jahren gehen soll. Dass Herr Oppermann das nächste Jahr schon verschluckt, das spricht ja Bände. Werben Sie für ein Europa, das ein Zuhause ist, in dem man gern lebt, egal wo man geboren ist, egal ob man arm ist oder reich, egal woher man kommt und woher man geflohen ist. Nein, PEGIDA ist nicht Deutschland. Ich jedenfalls will nicht in einem Land leben ohne Ekin Deligöz, ohne Navid Kermani und auch nicht ohne Jérôme Boateng, obwohl er für mich als Schalke-Fan wirklich im falschen Klub spielt.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 76 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat |