15.01.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 79 / Zusatzpunkt 2

Anton HofreiterDIE GRÜNEN - Regierungserklärung zu den Terroranschlägen in Frankreich

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Acht Tage sind seit den schrecklichen Anschlägen in Paris vergangen: acht Tage der Trauer, acht Tage des Schocks über die Angriffe auf unsere Freiheit, unsere Werte; aber auch acht Tage, die bei allem Schrecken, bei aller Trauer Mut machen. Die Menschen sind in Frankreich, in Deutschland und überall auf der Welt zusammengerückt. Wir erleben nicht Wut und Rachedurst, sondern Besonnenheit und trotzigen Mut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Botschaft ist eindeutig: Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir lassen uns unsere offene und freie Gesellschaft nicht nehmen. Wir stehen zusammen – für Toleranz und ein friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und der Abg. Volker Kauder [CDU/ CSU] und Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU])

Diese acht Tage bergen ein Versprechen. Ein Versprechen darauf, dass es den Terroristen nicht gelingt, uns zu spalten; wir stehen zu unseren Werten. Ein Versprechen darauf, dass wir uns angesichts des Schreckens auf unsere Stärken, Menschenrechte, Demokratie, Bürgerrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, unseren Zusammenhalt besinnen. Das wird nicht leicht. Es ist eine Herausforderung für uns alle, um dieses Versprechen Wirklichkeit werden zu lassen. Aber nur das kann die Antwort auf die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf den koscheren Supermarkt sein, auf die Anschläge gegen die Pressefreiheit, gegen die Religionsfreiheit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Attentäter von Paris waren Franzosen. Aus Deutschland und Europa reisen Hunderte junge Menschen in den Nahen Osten, um Gewalt und Terror zu säen. Sie sind Europäer, sie sind Deutsche. Es sind keine Fremden, es sind keine anderen, es sind Söhne und manchmal auch Töchter unserer Gesellschaft. Was treibt junge Menschen zu solch unmenschlichen Taten? Was hätten wir tun können, um sie von diesem Pfad des Hasses und der Gewalt abzubringen? Und was können wir zukünftig dagegen tun?

Zur Antwort gehören sicherlich Integration und Bildung. Wir brauchen Prävention. Wir müssen verhindern, dass junge Menschen zu brutalen, unberechenbaren Fundamentalisten werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, wie wir, auch wenn es sehr schwer sein mag, möglichst viele derjenigen in unsere Gesellschaft zurückholen können, die sich bereits radikalisiert haben. Nur wenn wir die Wurzeln des Hasses in unserer eigenen Gesellschaft angehen, können wir das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen. Da haben wir alle – Christen, Muslime, Juden, Agnostiker, Atheisten – eine sehr große Aufgabe vor uns.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Terror inmitten Europas fordert uns heraus. Wie können wir für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sorgen? Hier sind Stärke und Augenmaß gefordert. Zorn ist ein schlechter Ratgeber. Westliche Regierungen haben dieses Augenmaß bereits einmal missachtet. Nach dem 11. September 2001 haben sie unsere Werte teilweise aus den Augen verloren. Die Politik hat Freiheiten im Namen des Kampfes gegen den Terror unverhältnismäßig eingeschränkt. Auch in Deutschland wurden Grundrechte missachtet und der Datenschutz verletzt. Wir halfen in Europa den USA, wie aus dem Bericht des Senats erkennbar ist, bei der Folter. Damit haben wir unsere Glaubwürdigkeit, unsere eigenen Werte beschädigt. Diesen Fehler dürfen wir nicht erneut begehen. Wir dürfen diese Lehren nicht vergessen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Mehr Datenspeicherung und vermeintliche Gesetzesverschärfung sind falsche Reflexe. Wenn unsere Freiheit angegriffen wird, dann dürfen wir unsere Freiheit doch nicht selbst aufgeben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die Sicherheit steht im Dienste der Freiheit, im Dienste der Menschen, nicht umgekehrt. Gegen Kalaschnikows macht die Vorratsdatenspeicherung der Daten aller Bürger, auch aller unbescholtenen Bürger, doch keinen Sinn. Das haben die Anschläge in Paris gezeigt. In Frankreich gibt es die Vorratsdatenspeicherung seit 2006. Sie ist unverhältnismäßig. Sie stellt alle Bürger unter Generalverdacht. Die Attentäter waren doch bereits polizeibekannt. Wir brauchen eine gut ausgestattete Polizei, die ausreichend Geld und Personal hat, damit sie rechtsstaatliche, solide Polizeiarbeit leisten kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Offene Gesellschaften sind verwundbar und werden immer verwundbar sein. Wir müssen den Mut haben, uns dieses einzugestehen. Nur dann können wir besonnen handeln. Nur dann können wir das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kritik in einer offenen Gesellschaft kann so hart sein, dass sie verletzt. Satire kann schmerzen. Aber die Antwort darauf darf niemals Gewalt sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Aber so haben die Attentäter von Paris geantwortet. Sie sind losgezogen und haben Menschen ermordet. Eine grausame und verblendete Tat. Dabei haben sie sich auf den Islam berufen. Aber es ist kein Kampf des Islam gegen den Westen, sondern ein Kampf von Feinden der Freiheit gegen Freunde der Freiheit. Die meisten Opfer des weltweiten islamistischen Terrors sind selbst Muslime. Nahezu zeitgleich zu den Anschlägen in Paris töteten fundamentalistische Terroristen der Boko Haram in Nigeria Hunderte von Menschen. In Syrien, im Irak morden und foltern die Terroristen des IS.

Gewalt im Namen der Religion ist ein Problem, das viele Religionen kennen. Es ist kein singuläres Problem des Islam. Aber ein Teil der Antwort darauf muss im Streit innerhalb des Islam gefunden werden. Imame weltweit haben Gewalt und Hass verurteilt, zum wiederholten Male. Der Zentralrat der Muslime hat gemeinsam mit anderen zu einer Kundgebung für Toleranz und Weltoffenheit aufgerufen. Viele von uns Abgeordneten waren am Brandenburger Tor. Wir danken dem Zentralrat sehr für seine Initiative.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Millionen von Muslimen weltweit stehen fassungslos vor dem, was im Namen ihrer Religion verübt wird. Sie machen unmissverständlich klar, dass sie diesen Missbrauch nicht dulden werden. Aber nur wenn der kritische Diskurs innerhalb des Islam weiter stattfindet und wenn wir dabei an der Seite der Muslime stehen, können wir das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten acht Tagen haben wir viele Zeichen der Toleranz, des Miteinanders, des Zusammenstehens erlebt. Umso empörter macht es mich, wenn ich nach Dresden blicke, wenn ich sehe, dass dort am letzten Montag wieder Tausende Pegida-Anhänger auf den Straßen waren. Wer bei Pegida mitmarschiert, will eine geschlossene, eine enge Gesellschaft, eine die ausgrenzt, und zwar nach innen und außen, und eine die letzten Endes mehr Hass erzeugt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vor diesen Rissen in unserer Gesellschaft dürfen wir nicht die Augen verschließen. Der Antisemitismus gehört leider immer noch zur traurigen Realität in Deutschland und in Europa. Viele Menschen in Deutschland haben Vorurteile gegenüber dem Islam. Rechtsextremisten und -populisten wie Le Pen haben hohe Zuläufe.

2015 steht Europa vor einer Reihe von wichtigen Wahlen: in Griechenland, in Spanien, in Großbritannien, in Frankreich. Bei diesen Wahlen wird nicht allein über die nationale Politik, sondern auch über die Zukunft Europas entschieden. Jetzt ist es an uns Europäern, zu zeigen, was für ein Europa wir wollen: ein Europa, das für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie steht. Die letzten Tage lassen mich hoffen, dass die Menschen wieder erleben, was wir mit Europa gewonnen haben, was uns an Europa liegt – einem Europa, in dem die Menschen wieder miteinander diskutieren, einem Europa, in dem sich die Menschen füreinander interessieren, einem Europa, in dem die Menschen für die Werte Europas und füreinander einstehen, einem Europa, das lebendig ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die ganz große Mehrheit der Menschen hat erkannt, dass es Zeit ist, Farbe zu bekennen: gegen Rassismus, gegen Vorurteile, gegen Menschenfeindlichkeit. Nur wenn wir gemeinsam für die Demokratie, für die Freiheit eintreten, nur dann können wir das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen. Die letzten acht Tage machen mir da große Hoffnung.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Volker Kauder das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4433051
Wahlperiode 18
Sitzung 79
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zu den Terroranschlägen in Frankreich
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