Karl-Georg WellmannCDU/CSU - EU-Assoziierungsabkommen Ukraine, Georgien, Moldau
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Genosse Gehrcke,
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)
das Volk der Ukraine hat sich für den europäischen Weg entschieden, und zwar in zwei freien und unabhängigen Wahlen. Die Menschen dort haben entschieden, dass sie Teil der europäischen Familie sein wollen. Sie haben sich übrigens vorbildlich verhalten und den Radikalen trotz des Krieges und der Wirtschaftskrise keine Chance gelassen. Das hätte ich mir an der einen oder anderen Stelle sowohl in den deutschen Bundesländern als auch in Frankreich gewünscht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die europäische Nachkriegsordnung unter Einschluss des gesamten europäischen Regelwerks gibt jedem Staat das Recht, Herr Gehrcke, über sein Schicksal und seine Zugehörigkeit auch zu überstaatlichen Organisationen selbst zu entscheiden. Niemand – auch kein Nachbarstaat; egal wie groß er ist –, hat ein Vetorecht, und das gilt auch für Russland. Russlands Denken in Einflusszonen lehnen wir ab.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Franz Thönnes [SPD])
Die Ukraine hat ein verbrieftes Recht auf Selbstbestimmung, und dieses Recht hat sie wahrgenommen, indem sie das Assoziierungsabkommen unterschrieben hat. Der Versuch der Einflussnahme Russlands auf den Gang der Dinge, die militärische Aggression, werden wir nicht akzeptieren. Solange diese militärische Aggression fortdauert, gibt es auch keine Möglichkeit, die Sanktionen aufzuheben. Wenn wir diese völkerrechtlichen Prinzipien ernst nehmen, dann müssen wir in der Tat alles tun, um die Ukraine politisch und ökonomisch zu stabilisieren. Das heißt, wir müssen dem Land auf dem Weg nach Europa intensiv helfen.
Wir dürfen die alten Fehler nicht wiederholen. Sie haben als Beispiel Polen angesprochen, Frau Beck. Die Ukraine muss eine klare europäische Perspektive haben. Andreas Schockenhoff hat es an dieser Stelle gesagt: Wenn denn eines Tages, wann immer das sein wird, die Voraussetzungen erfüllt sind, muss die Ukraine die Chance haben, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Wir haben es bei Polen erlebt: Als es in den 90er- Jahren zum Abschluss eines Assoziierungsabkommens kam, haben wir uns geweigert, Polen eine europäische Perspektive zu geben. Polen ist dann Mitglied in der EU geworden und ist geradezu ein Musterknabe unter den Beitrittsländern und eine große Bereicherung für Europa.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Ukraine hat übrigens – das müssen wir all denen sagen, die Angst vor einem Fass ohne Boden haben – ein großes Potenzial. Ukrainische Unternehmen und Ingenieure können Dinge, die wir nicht können. Was ihnen fehlt, ist westliches Know-how und westliches Kapital. Aber wenn dies dazukommt, kann und wird die Ukraine ein großer Gewinn für Europa sein. Wir müssen uns deshalb in der Ukraine nachhaltig engagieren. Wir dürfen den EU-Enthusiasmus der Maidan-Bewegung, der Zivilgesellschaft, nicht enttäuschen.
Wir müssen leider feststellen: Ein Jahr nach den Protesten auf dem Maidan geht es den Menschen dort nicht besser, sondern schlechter. Sie stellen die Frage: Wann geht es uns besser? Wir haben doch die Assoziierungsverträge schon vor fast einem Jahr unterschrieben. – Wenn wir das Vertrauen der Menschen in der Ukraine nicht verspielen wollen, dann müssen wir schnell etwas machen und müssen schnell zeigen, welche Vorteile Europa für sie hat.
Wir dürfen, wenn wir das Vertrauen der Maidan-Bewegung nicht enttäuschen wollen, keine Buchhalterdiskussionen führen. Den Enthusiasmus der Menschen für die europäischen Werte dürfen wir nicht enttäuschen. Aber es muss ebenso klar gesagt werden, dass wir keine Kompromisse machen, wenn es um die notwendigen Reformen geht. Wir verkennen nicht die Schwierigkeiten: Rezession und Krieg im Osten des Landes. Wir müssen auch sagen, dass wir mit den bisherigen Reformen seit dem Amtsantritt der Übergangsregierung noch nicht zufrieden sein können.
Die Ukraine wird sich politisch und ökonomisch nur stabilisieren, wenn es zu einem umfassenden Wandel kommt. Die Ukraine braucht so etwas wie einen Marshallplan; das ist inzwischen eine Binsenweisheit. Aber das setzt nicht mehr und nicht weniger als eine fundamentale Neugestaltung des Verfassungssystems, der Justiz und der Finanzverfassung voraus. Nur wenn sich die Ukraine zu einer rechtsstaatlichen Demokratie nach europäischem Vorbild transformiert, wird eine solche Hilfe möglich sein.
Die westliche Staatengemeinschaft und vor allem wir Deutsche müssen sehr viel mehr Engagement und auch Fantasie entwickeln, wie wir die Ukraine voranbringen können. Dazu gehört eine sehr fundierte Beratung und Unterstützung bei den wichtigsten Themen: bei der Verfassungs- und Justizreform, der Finanz- und Steuerverfassung, den nötigen Wirtschaftsreformen und den großen Reformen im Bereich von Polizei und Staatsanwaltschaft.
Leider kann sich die Ukraine jetzt keinen mehrjährigen Verfassungsdiskurs leisten. Sie hat alles, aber keine Zeit. Deshalb muss es schnell gehen. Wir alle sind aufgefordert, möglichst viele pensionierte Landräte, Oberstadtdirektoren, Bürgermeister, Gerichtspräsidenten und Finanzamtsvorsteher in unseren Wahlkreisen zu motivieren, für eine Weile in die Ukraine zu gehen und dort beim Aufbau zu helfen.
Wenn wir all das jetzt versäumen sollten, dann werden wir in Europa am Ende sehr viel mehr als nur die Ukraine verlieren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Als nächster Redner spricht Franz Thönnes, SPD.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4441921 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 80 |
Tagesordnungspunkt | EU-Assoziierungsabkommen Ukraine, Georgien, Moldau |