Astrid FreudensteinCDU/CSU - Abkommen mit Polen zur Zahlung von Ghetto-Renten
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Bucior! Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren! Nach vielen parlamentarischen Beratungen und wechselnden Regierungskoalitionen können wir heute sagen: Wir machen gemeinsam einen Punkt hinter das Kapitel Ghettorente. Nun endlich können auch die in Polen lebenden ehemaligen Ghettobeschäftigten diese Rente beziehen. Wir hoffen jetzt auf eine rasche Umsetzung nach der Ratifizierung; Frau Staatssekretärin hat uns das ja schon zugesichert. Dafür herzlichen Dank!
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Bis heute gab und gibt es Kritik daran, dass es viel zu lange gedauert habe, bis alle Berechtigten die Ghettorente beziehen können. In der Tat: Es hat lange gedauert. Es gab auch immer wieder den mehr oder weniger offenen Vorwurf, dass es vielleicht sogar von staatlicher Seite die Absicht gegeben haben könnte, dass gar nicht so viele Menschen die Ghettorente bekommen. Ich glaube, es ist deshalb wichtig, hier noch einmal festzuhalten: Als alle Parteien dieses Hauses im Jahre 2002 das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto beschlossen, hatten sie ganz sicher nicht die Motivation und das Ziel, dass es möglichst wenige sein mögen, die diese Ghettorente bekommen. Gerade die „Zahlbarmachung“ war ja der Hauptgrund für das Gesetz.
Auch die Reformen in den folgenden Jahren, die in die Änderungen des Gesetzes im vergangenen Jahr mündeten, gingen in diese Richtung: So haben wir beispielsweise die ansonsten im Sozialrecht geltende Vierjahresfrist bei den Ghettorenten ausgesetzt. Diese Regelung war zu Recht von den heute hochbetagten ehemaligen Ghettobeschäftigten als Unrecht empfunden worden. Auch die für einen Rentenbeginn im Jahr 1997 einzuhaltende Antragsfrist bis 2003 wurde gestrichen.
Ebenfalls können die Betroffenen nun entscheiden, ob sie die neu festgestellte Rente mit Rentennachzahlung beziehen wollen oder ob sie die bisherige Regelung mit Zuschlag beibehalten wollen. Die berechtigten Interessen der ehemaligen Ghettobeschäftigten haben wir also berücksichtigt und mehr Wahlmöglichkeiten eingeräumt.
Der Prozess, der bis heute andauerte, war vieles: Er war in der Tat lang. Fast 18 Jahre sind seit dem Urteil des Bundessozialgerichts vergangen. Dieser Prozess war von Umdenken geprägt – von einer juristisch sehr strengen und engen zu einer weiteren Auslegung des Gesetzes. Er war natürlich auch tragisch, weil viele Berechtigte in der Zwischenzeit gestorben sind. Doch eines war dieser Prozess sicher nicht: Er war nicht einfach, er war nicht eindimensional. Es gab nämlich sehr viele verschiedene Akteure, von den Antragstellern über Anwälte und Staaten bis hin zu den Sozialversicherungen, und es gab die Gesetze verschiedener Länder. Es gab nicht zuletzt eine Zeitspanne von 70 Jahren, die das Erlebte von dem Heute trennt.
Mit diesen Rahmenbedingungen steht das Verfahren stellvertretend für viele Verfahren im Rahmen der Wiedergutmachung und Entschädigung. Erlebtes und Erlittenes musste mit objektiv begründbaren Gesetzen in Einklanggebracht werden. Gerade im Bereich der Sozialversicherungen stellte sich das als schwierig dar. Hier prallten eben juristische und alltagsweltliche Sprache und Bedeutung aufeinander.
Was bedeutete zum Beispiel das Wort „freiwillig“ im Sozialrecht? Für die Ghettoarbeiter war die Gesamtsituation, in der sie ihre Arbeit verrichteten, selbstverständlich nicht freiwillig. Das Erzählen aus der eigenen Lebenswirklichkeit hatte deshalb für viele Menschen zur Folge, dass sie keine Ghettorente bekamen; denn die Ghettorente setzte eine Freiwilligkeit der Arbeit voraus. Begrifflichkeiten wie „Zwangsarbeit“ waren ein zentraler Ablehnungsgrund. Erst die Schilderungen von Historikern bewogen das Sozialgericht, die strenge Auslegung zu beenden. Das alles hinterlässt bei uns heute kein gutes Gefühl. Ich meine aber, dass Schuldzuweisungen angesichts der Komplexität des Verfahrens nicht angebracht sind.
Für die in Polen lebenden ehemaligen Ghettobeschäftigten war es zuletzt aber gar kein Problem der Semantik mehr, das ihnen die Rente nicht ermöglichte, sondern ein – es wurde schon erwähnt – 40 Jahre altes Sozialversicherungsabkommen. Das Abkommen selbst hat seine Bedeutung und seinen Sinn. Für die Ghettobeschäftigten aber war es ein Hindernis. Diesen Missstand beheben wir heute, und das ist auch gut so.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind; in Kurzform: Ghettorentengesetz.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4108, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/3787 und 18/4051 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es jemanden, der dagegen stimmt? – Gibt es jemanden, der sich enthält? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4662922 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 88 |
Tagesordnungspunkt | Abkommen mit Polen zur Zahlung von Ghetto-Renten |