Wolfgang Strengmann-KuhnDIE GRÜNEN - 50 Jahre Europäische Sozialcharta
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Pätzold, Sie haben deutlich gemacht, was für eine Bedeutung die Europäische Sozialcharta hat. Mir ist aber nicht ganz klar geworden, warum die revidierte Sozialcharta, obwohl Deutschland sie unterschrieben hat, immer noch nicht zur Ratifizierung vorgelegt worden ist. Die beiden Punkte, die Sie genannt haben, müssen auch damals schon diskutiert worden sein. Warum es jetzt noch eine lange Diskussion mit Verbänden geben soll, aber nicht mit dem Bundestag zum Beispiel, leuchtet mir überhaupt nicht ein. Ich denke, das sollte schneller gehen. Legen Sie das endlich vor, damit das hier tatsächlich ratifiziert werden kann!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Es ist nicht das einzige Beispiel, bei dem die Bundesregierung bremst, wenn es um die Ratifizierung von internationalen Abkommen geht. Wir haben das Beispiel des Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt, bei dem es ähnliche Verzögerungen gibt. Insofern finde ich, dass Deutschland seiner internationalen Verantwortung stärker gerecht werden muss und nicht warten kann, bis 33 andere Länder die Sozialcharta ratifiziert haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Außerdem ist es natürlich wichtig, dass auch die Berichte des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte ernst genommen werden, wenn wir die Sozialcharta unterschrieben haben. Das hat der Kollege Hunko schon erwähnt. Da gibt es in den verschiedenen Berichten diverse Kritik an der Politik der Bundesrepublik Deutschland, von den Sanktionen bei Hartz IV angefangen bis hin zur Diskriminierung von Frauen beim Einkommen. Ich glaube, dass das Punkte sind, die man einmal deutlicher öffentlich diskutieren sollte und zu denen die Bundesregierung und der Bundestag auch Stellung nehmen sollten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es ist gesagt worden: 47 Mitgliedstaaten. Es ist vielleicht wichtig, noch einmal zu betonen: Es geht hier nicht um die Europäische Union, sondern um den Europarat. Es ist vielleicht gerade in diesen Zeiten noch einmal zu betonen, dass Europa weitaus mehr ist als die Europäische Union. Aber auch innerhalb der Europäischen Union wird diese Regierung ihrer Verantwortung nicht gerecht. Das ist beim EU-2020-Prozess der Fall, wo es auf europäischer Ebene das Ziel der Armutsreduktion gibt. Wir finden gut, dass es ein quantifiziertes Ziel gibt. Die letzte Bundesregierung hat gesagt: Wir akzeptieren das Kriterium nicht. Wir denken uns ein neues Kriterium aus. – Die jetzige Bundesregierung bleibt dabei. Das ist keine Art und Weise, miteinander vernünftig in der Europäischen Union umzugehen. Wenn man gemeinsame Ziele und gemeinsame Kriterien hatte, sollte man sich auch an diese gemeinsamen Kriterien halten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch bei der EU-Krisenpolitik ist die deutsche Bundesregierung ihrer sozialen Verantwortung nicht gerecht geworden. Die Krisenpolitik hatte eine klare soziale Schieflage. Dies ist besonders deutlich in Griechenland zu erkennen, aber nicht nur dort. Es ist nicht gelungen, die Reformen so auszugestalten, dass sie Armut bekämpfen, dass sie sozial ausgewogen sind. In Griechenland gibt es mit der neuen Regierung vielleicht eine Chance, dass sich das etwas ändert. Die Liste der Maßnahmen, die vorgelegt worden ist, ist für uns ermutigend. Ob sie umgesetzt wird, ist natürlich die Frage. Aber als Ziel steht dort, dass eine nationale Grundsicherung eingeführt werden soll, dass die Reicheren mehr Steuern zahlen sollen, dass eine Verwaltung aufgebaut werden soll, um die Vermögen zu erfassen. Hier gibt es tatsächlich eine Chance. Es ist auch gut, dass es von der Euro-Gruppe und den drei Institutionen tatsächlich auch gewürdigt worden ist. Nichtsdestotrotz tut diese Bundesregierung immer noch zu wenig für ein soziales Europa. Ich könnte noch viele Beispiele nennen: die Vertiefung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion, der fehlende Einsatz für eine Mindesteinkommensrichtlinie.
Insgesamt appelliere ich an die Bundesregierung: Nehmen Sie Ihre Verantwortung endlich wahr, sorgen Sie dafür, dass die genannten Abkommen und Protokolle endlich ratifiziert werden, und leisten Sie einen stärkeren Beitrag für ein soziales Europa, denn das ist notwendiger denn je!
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Als nächste Rednerin hat Angelika Glöckner von der SPD-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Antrag der Grünen reden wir heute über die Europäische Sozialcharta. Es gibt sie bereits seit 54 Jahren. Sie ergänzt die Europäische Menschenrechtskonvention im Bereich der sozialen Grundrechte und umfasst neben dem Recht auf Arbeit, ordentliche Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz auch Themen wie berufliche Ausbildung, gewerkschaftliche Vereinigung und die soziale Sicherheit im Allgemeinen, um nur einige zu nennen.
Die europäischen Staaten gelten als die Ursprungsländer des Wohlfahrtsstaates. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass die Menschen Europas und natürlich auch wir Deutsche einer umfassenden sozialen Sicherheit eine ganz herausragende Bedeutung beimessen. Durch die Europäische Sozialcharta wurden erstmals soziale Rechte in einem völkerrechtlich verbindlichen Abkommen beschlossen. Auch wenn die Europäische Sozialcharta in der öffentlichen Wahrnehmung meist hinter der Europäischen Menschenrechtskonvention zurücksteht, belegt die Tatsache, dass 43 der 47 Mitgliedstaaten des Europarates die Europäische Sozialcharta mittlerweile unterzeichnet haben, wovon wiederum 33 Mitgliedstaaten sie ratifiziert haben, die immense Bedeutung dieser Konvention. Sie ist die Grundlage dafür, dass sich die Sozialpolitiken und die sozialen Rechte in den Staaten Europas angleichen, und dies auf hohem Niveau.
Wie hoch die Bedeutung sozialer Rechte gerade auch für die Zukunft Europas ist, zeigt sich ganz besonders im Verlauf der europäischen Wirtschaftskrise. In einer Zeit, in der sich die Arbeitslosigkeit in großen Teilen Europas – auch über den EU-Raum hinaus – auf lange ungesehenen Rekordhöhen bewegt und hauptsächlich junge Menschen davon betroffen sind, kommt sozialen Rechten eine ganz besondere Bedeutung zu. Nur wenn es gelingt, den Menschen ein soziales Auffangnetz zu spannen, damit sie nicht ins Bodenlose fallen, und es gleichzeitig gelingt, ihnen Perspektiven für ihre Zukunft aufzuzeigen, damit sie wieder Licht am Ende des Tunnels sehen können, nur dann werden sie bereit sein, soziale Einschnitte bis auf das Nötigste zur Konsolidierung ihrer Staatshaushalte und Volkswirtschaften hinzunehmen. Dazu ist die Europäische Sozialcharta ein wichtiger Beitrag. Sie hält die europäischen Staaten an, ihre Sozialpolitiken auf hohem Niveau anzugleichen, gerade weil die Staaten Europas ihre Sozialpolitiken eigenständig regeln. Hierbei kann und muss die Europäische Sozialcharta meines Erachtens als Maßstab dienen.
Dieser Maßstab ist übrigens auch für Deutschland anzulegen; denn die Charta wurde von Deutschland – das wurde schon gesagt – bereits 1961 unterzeichnet und 1965 ratifiziert. Auch ich bin der Meinung, dass die nachgebesserte Fassung von 1996 mittelfristig durch die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert werden sollte. Nicht ohne Grund hat die Bundesregierung in der letzten Großen Koalition im Jahr 2007 die Europäische Sozialcharta unterzeichnet. Auch wenn man wie Sie, verehrte Damen und Herren von der Linken, beklagt, dass der Bundestag noch immer nicht darüber abgestimmt hat, darf man aber nicht vergessen, dass die Bundesrepublik durchaus viele positive Beispiele setzt und im europäischen Vergleich sozialpolitisch als gutes Vorbild gilt. Zugang zu Bildung und Fortbildung, Kündigungsschutz, Mutterschutz, Elternzeitregelungen, Tarifautonomie, Mitbestimmungsrechte für Betriebs- und Personalräte und das Diskriminierungsverbot nach dem AGG sind in unserem Land gute und gelebte Praxis.
Als Gewerkschafterin bin ich davon überzeugt, dass sich das System der Sozialpartnerschaft in vielfältiger Weise bewährt hat, ja sogar einen Grundpfeiler der Stabilität unseres Landes darstellt. Hier gibt es natürlich immer auch Raum für Verbesserungen. Einer der zentralen Kritikpunkte – es wurde darauf hingewiesen – war der fehlende Mindestlohn. Mit der Einführung des Mindestlohns haben wir aber im Laufe dieser bisher nur kurzen Legislaturperiode einen Meilenstein erreicht und dazu beigetragen, dass 4 Millionen Menschen in unserem Land davon profitieren können.
(Beifall bei der SPD)
Mit dem Elterngeld Plus ermöglichen wir Eltern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Rentenpaket, das 2014 verabschiedet wurde, verbessert die Situation von älteren Menschen, insbesondere von Frauen, die in ihrer Arbeitsbiografie wegen Mutterschaft und Erziehungszeiten öfter Unterbrechungen haben. Mit der Einführung der Mietpreisbremse werden wir für viele Menschen in unserem Land sicheren und bezahlbaren Wohnraum schaffen. Das alles ist gute Sozialpolitik, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotzdem steigt die Armut!)
All diese Entscheidungen werden sich unmittelbar positiv auf das Leben vieler Menschen in unserem Land auswirken und ihre sozialen Rechte stärken.
Was die Umsetzung sozialer Rechte angeht, kommen Deutschland und auch diese Koalition ihren Verpflichtungen nach. Das soll aber nicht heißen, dass wir auf einen Rahmen, wie ihn die Europäische Sozialcharta vorgibt, nicht angewiesen sind. Es ist aber auch richtig, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingehend prüft – das ist meiner Meinung nach zu begrüßen –, ob bereits beschlossene und bewährte Grundsätze und Regelungen, die soziale Rechte in Deutschland garantieren, durch eine Ratifikation der revidierten Fassung der Europäischen Sozialcharta beeinflusst würden. Das ist insbesondere aufgrund des Querschnittcharakters vieler Regelungen der revidierten Fassung der Europäischen Sozialcharta geboten. Diese wirken sich grundlegend auf alle Schutzrechte der Europäischen Sozialcharta in der Fassung von 1961 aus. Diese Prüfung muss meines Erachtens eingehend und umfassend erfolgen und nimmt daher auch ein geraumes Maß an Zeit in Anspruch. Diese Zeit möchte ich der Regierung und vor allem auch dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter Führung meiner Kollegin Andrea Nahles zugestehen. Am Ende dieser Prüfung muss aber noch in dieser Legislaturperiode ein Ergebnis stehen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Katrin Albsteiger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4663149 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 88 |
Tagesordnungspunkt | 50 Jahre Europäische Sozialcharta |