Karl-Georg WellmannCDU/CSU - Aktuelle Stunde zur Auswirkung der Ermordung des russischen Politikers Nemzow
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt viele Merkwürdigkeiten bei diesem Mord unter den Augen des Kreml, in der sensibelsten russischen Sicherheitszone schlechthin, unter Augen, denen sonst überhaupt nichts entgeht. Hängen Sie da mal ein Plakat auf; es ist in Sekunden wieder weg. Exakt zum Tatzeitpunkt versperrt ein Müllauto die Sicht, exakt zum Tatzeitpunkt sind 15 Überwachungskameras ausgeschaltet, weil sie angeblich gewartet werden. Wie idiotisch ist denn dieses Märchen, meine Damen und Herren? Ein FSB-Sicherheitschef, der dies verantwortete, wäre nicht einen Tag länger im Amt, wenn er so etwas machte.
Von der Kollegin Beck und dem Kollegen Jung wurde schon auf das völlig vergiftete Meinungsklima hingewiesen, in dem Hass und Verfolgung gegen Andersdenkende blühen und sich natürlich einige ermutigt fühlen, den Ruhm und die Größe Russlands durch solche Mordtaten wiederherzustellen.
Meine Damen und Herren, Russlands Regierung und eine Mehrheit der Bevölkerung sehen sich in einem vermeintlichen Abwehrkampf gegen äußere Feinde, und ihr Präsident will nicht zulassen, dass die Ehre Russlands von Feinden beleidigt wird. Die Frage ist, wie wir jetzt eigentlich auf so etwas reagieren.
Ich möchte vorsichtig daran erinnern, dass das Verhältnis zu Russland in erster Linie eine außenpolitische Fragestellung ist. Es geht leider nicht darum, menschlich sehr verständlichen Regungen der Empörung und des Abscheus Genüge zu tun, sondern darum, wie wir außenpolitisch damit umgehen und praktische Politik betreiben können. Das hat für mich zwei Konsequenzen.
Erstens. Wir müssen immer darauf achten, dass wir die Diplomatie nicht vernachlässigen. Russland ist und bleibt unser größter östlicher Partner. Für Russland gilt übrigens umgekehrt: Wir sind und bleiben dessen größter westlicher Partner.
Wir müssen auch darauf achten, dass unsere Außenpolitik nicht durch Empfindungen und Gefühle geleitet wird, so schwierig das manchmal ist. Wir tun das an anderer Stelle auch nicht, zum Beispiel gegenüber China, wo die Menschenrechtslage noch schwieriger ist als in Russland.
Zweitens. Wir müssen leider von unserer Konvergenzvermutung, also von unserer Sicht der Dinge, dass andere Staaten so werden wie wir, wenn wir nur lange genug mit ihnen zusammenarbeiten, Abschied nehmen. Wir haben keinen Hebel zur Durchsetzung unserer Werte. Wir müssen aufpassen, dass unsere Verstörung über die Zustände in Russland nicht auf die Außenpolitik durchschlägt. Die Akzeptanz unserer Werte durch andere darf nicht Bedingung für unsere Außenpolitik sein. An dieser Erkenntnis kommen wir leider nicht vorbei; sonst können wir zwei Drittel der Staaten dieser Welt nicht mehr besuchen oder mit ihnen den Kontakt aufrechterhalten.
Wir haben sehr oft über den Begriff der „wertebezogenen Außenpolitik“ gesprochen. Aber damit geraten wir – wir sehen das in der Ukraine, in Belarus und in Russland – leider zu oft auf Traumpfade statt auf Wege, die in die Zukunft führen. Wir werden von außen leider wenig verändern. Wo das versucht wurde, ist es meistens furchtbar schiefgegangen: in Libyen, Irak, Syrien und anderswo. Viele Probleme, die wir jetzt haben, sind aus der Vorstellung entstanden, wir könnten einen Regime Change bewirken.
Die russische Innen- und Außenpolitik ist nicht mit den Anforderungen des 21. Jahrhunderts kompatibel. Man glaubt in Russland offenbar, einen äußeren und inneren Feind zu brauchen. Das ist – das sage ich ganz deutlich – kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche.
Gestern hat der russische Finanzminister, Herr Siluanow, die Haushaltsplanung für die nächsten drei Jahre vorgestellt. Ich empfehle sehr, sich das anzugucken. Er höchstpersönlich, nicht etwa die CIA oder jemand anderes, erklärt, dem Staat gehe das Geld aus; sie müssten das Haushaltsbudget kürzen und nicht nur die Rüstungsausgaben senken, sondern auch Renten und Sozialleistungen kürzen. Die Wirtschaft schrumpft dieses Jahr um 3 Prozent. Die Inflationsrate beträgt 16 Prozent, und es gibt, so der russische Finanzminister, einen Kapitalabfluss von 30 Milliarden Dollar im ersten Quartal dieses Jahres. Bezogen auf das ganze Jahr rechnet er mit 90 Milliarden bis 100 Milliarden Dollar. Das kennzeichnet exakt den Schwächezustand, in dem sich Russland befindet und der nur zu einem kleinen Teil durch Sanktionen verursacht wurde.
Das moralische Koordinatensystem in Russland ist durcheinandergeraten. Vor allem das steht der dringend notwendigen Modernisierung Russlands entgegen, ist aber mit Mitteln unserer Außenpolitik nicht zu ändern. Ich habe keine Sorgen: Die westliche Wirtschaftskraft und Innovationskraft sind denjenigen Russlands haushoch überlegen. Wir müssen uns darüber keine Sorgen machen, sondern nur auf die veränderte Lage reagieren. Wenn man auf russischer Seite glaubt, ökonomische Schwäche durch militärische Kraftmeierei kompensieren zu können, so müssen wir uns auch sicherheitspolitisch darauf einstellen, und ich habe den Eindruck, dass wir das tun.
Der Vorrang der Diplomatie in der Außenpolitik gibt uns im Verhältnis zu Russland vor, erstens die Lage realistisch zu beurteilen und die notwendigen Schlüsse zu ziehen und zweitens Russland weiter das Angebot einer Zusammenarbeit zu machen, sofern selbstverständlich die Regeln der europäischen Nachkriegsordnung eingehalten werden. Dies tut die Bundesregierung offensichtlich, auch wenn das Gedränge auf der Regierungsbank im Moment nicht gerade furchterregend ist.
(Heiterkeit und Beifall der Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] und Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir werden deshalb die aktuelle Krise gemeinsam mit unseren Freunden und Verbündeten bestehen. Daran habe ich keinen Zweifel.
Danke für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Stefan Liebich, Fraktion Die Linke, das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4693706 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 90 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde zur Auswirkung der Ermordung des russischen Politikers Nemzow |