Maria MichalkCDU/CSU - Vereinbarte Debatte anlässlich der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen aus der letzten frei gewählten Volkskammer! Verehrte Gäste! Herr Ministerpräsident! Liebe Frau Dr. Bergmann-Pohl! Ja, die Wahl am 18. März 1990 war eine echte freie Wahl. Wir hatten es mit keinem Block der Nationalen Front zu tun, sondern hatten die Wahl aus 24 Listen bzw. Parteien, die sich um 400 Mandate beworben hatten. Zwölf Listen haben dann gezogen, wie wir sagen. Wir waren 409 Volkskammerabgeordnete, und ich war dabei.
Als ich an so einem Frühlingstag wie heute, am 18. März 1990, in meinem kleinen Ort zur Wahl ging, war etwas ungewöhnlich: Die Presse stand vor dem Wahllokal. Das gab es vorher nicht.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Tag war voller Fröhlichkeit und voller Hoffnung. Wer drei Wochen Wahlkampf – mehr waren es nicht – gemacht hatte, der wusste, dass die Allianz für Deutschland große Chancen hatte, die Mehrheit zu bekommen. Wer mit den Leuten geredet hat, der wusste, was sie denken.
Viele haben es anders eingeschätzt; manchmal haben wir uns von diesen Einschätzungen beflügeln lassen. Jedenfalls war es für mich dann trotzdem eine Überraschung, dass ich Volkskammerabgeordnete wurde. Wir hatten kein Handy; wir hatten kein Fax. Wir hatten in meinem Bautzen auch kein ZDF oder ARD. Wir hatten zwar die Aktuelle Kamera, aber dass ich gewählt wurde, habe ich erst am darauffolgenden Montag erfahren.
Ich darf hier feststellen: Diese Volkskammer war ein wahres Arbeitsparlament. Sie war nicht zum Repräsentieren gewählt worden. Wir repräsentierten zwar unsere Bevölkerung, die uns gewählt hat, aber wir waren von Anfang an ein großes Arbeitsparlament.
Als wir die erste Fraktionssitzung hatten – das war am 27. März 1990; ich war mit meinem alten Wartburg hier nach Berlin gekommen – und wir uns im ehemaligen Haus des Zentralkomitees der SED – heute ist es das Auswärtige Amt – zur Fraktionssitzung versammelten, da kannte ich – das kann man gar nicht glauben – niemanden. Vom Sehen kannte ich meinen Nachbarn und Kollegen aus Kamenz, den Herrn Tillich, den Sie sicherlich alle kennen. Er ist heute Ministerpräsident im Freistaat Sachsen. Aber ansonsten waren wir gar nicht so vernetzt und konnten es auch gar nicht sein. Wir waren gewählt und hatten die Aufgabe – die hatten alle –, eine Fraktion zu bilden.
In der ersten Fraktionssitzung wurde ein Fraktionsvorsitzender gewählt: Das war unser späterer Ministerpräsident, den ich natürlich aus dem Fernsehen und vom Parteitag kannte. Aber es war klar: Er wird Ministerpräsident, und wir brauchen einen neuen Fraktionsvorsitzenden. Günther Krause ist es dann geworden.
Als es dann darum ging, eine Präsidentin oder einen Präsidenten zu nominieren, weil wir die stärkste Fraktion waren, wurde Frau Dr. Bergmann-Pohl mit der Begründung vorgeschlagen: Sie hat schon große Kongresse geleitet – wer hatte das schon von uns? –, und sie ist anerkannte Ärztin. – Da sie hinter mir saß, konnte ich sie kurz anschauen und dachte mir: Ja, sie ist sympathisch. Die wähle ich.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
Das waren die Konstellationen.
Ich will noch einmal feststellen: Diese Volkskammerwahl war historisch. Alle waren sich einig, bis auf die Linke, die damalige PDS bzw. SED-PDS, die das nicht wollte. Herr Gysi hat immer wieder versucht, irgendwo in den Anträgen einen Halbsatz hineinzumogeln, um die Souveränität der DDR im Nachhinein zu legitimieren. Wir haben das aber gemerkt.
(Thomas Oppermann [SPD]: War der damals schon so?)
Alle Fraktionen wussten im Grunde genommen: Die Volkskammer ist angetreten, um sich aufzulösen. Das Ziel war die deutsche Einheit. Der Weg dahin war mit vielen Fragezeichen versehen.
Damals habe ich begonnen, ein Notizbuch zu führen. Es ist zufällig grün,
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Wahl!)
weil ich aus Sachsen komme. Ich habe darin praktisch alles aufgeschrieben, was mir die Leute so erzählt haben und wie sie denken.
Da gibt es ein Zitat von einem Herrn, das mich sehr nachdenklich gestimmt hat. Er hat ungefähr gesagt: Bei meiner ersten Wahl habe ich rechts gewählt; das führte ins Verderben. Bei meiner zweiten Wahl habe ich links gewählt; das war auch Beschiss. Jetzt wähle ich Mitte, und das ist die Allianz für Deutschland. Sie können sicher sein, sie bekommt die Mehrheit.
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)
Mit diesem Votum – ja, muss man sagen – waren wir sehr gestärkt. Trotzdem weiß jeder von uns, dass wir versucht haben, miteinander zu reden. Wir haben die Große Koalition gebildet, eine große Allianz für die deutsche Einheit. Wir haben versucht, viele Wünsche und Vorstellungen unter einen Hut zu bekommen.
Wir haben gemerkt, wie schwer es ist, mit Geschäftsordnungen umzugehen. Ich erinnere mich mit Staunen an die kleine Festrunde, die am 17. Juni 1990, zu diesem historischen Tag, stattfand – da haben wir aus der Verfassung alle Symbole der DDR und alles, was damit zu tun hatte, gestrichen –, und daran, wie ein Kollege von der DSU aufstand und sagte: Sofortiger Beitritt. – Wir haben gesagt: Ja, den wollen wir auch, aber nicht sofort. Es muss geordnet sein. Wir haben noch keine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Wir sind mit dem Einigungsvertrag noch nicht fertig. – Wie man mit einem solch simplen Antrag umgeht – dazu brauchten wir fünf Auszeiten. Stellen Sie sich vor: An diesem historischen Tag hatten wir Besuch aus Bonn: Helmut Kohl, Rita Süssmuth, die Präsidentin des Bundestages, und weitere waren da. Und die Volkskammer verließ immer wieder halbstündlich diesen Raum und tagte in Nebenräumen. Ich erinnere mich an große Vorhänge im Palast der Republik. Es waren wahrscheinlich irgendwelche Probebühnen. Es war nicht ganz sicher, wer da eigentlich noch mithört; denn wir waren immer noch ein Stück weit geprägt von den Erfahrungen, dass „Horch und Guck“ überall war. Trotzdem haben wir da unsere Strategie entwickelt. Gewöhnungsbedürftig!
Eine andere Sache – ich will das einfach einmal aus dem Erleben erzählen –: Heute tagen wir im Deutschen Bundestag von 9 Uhr bis manchmal halb zwölf in der Nacht. – Wir haben damals eine Mittagspause eingehalten. Wissen Sie, wie erhebend es für uns Volksvertreter war, in diesem Palast der Republik, in dem Salon, in dem die SED-Herrschaften ihre Speisen einnahmen, eine halbe Stunde Pause machen zu dürfen? Auch das war wichtig und richtig. Dort haben wir uns beim Mittagstisch überfraktionell das eine oder andere gesagt und Netzwerke gegründet.
Wichtig ist für uns, dass wir sagen können: Wir haben mit aller Kraft versucht, diesen bedeutenden Auftrag zu erfüllen. Wir hatten zunächst kein Büro. Mein erstes Büro bekam ich irgendwann Ende April. Wir haben aus Koffern gelebt. Wir hatten kein Bett. Man hat uns die Mannschaftsunterkunft der Stasi in der Ruschestraße zugewiesen. Wir hatten auch keine Infrastruktur. Ich kann mich an junge Kollegen erinnern. Sie hatten, wie wir alle, ihre Arbeit aufgegeben, da wir jeden Tag und jede Woche in Berlin tagten, und bekamen kein Geld. Das erste Geld gab es im Mai. All das haben die Familien der Abgeordneten mitgetragen. Deshalb ist es wichtig, dass wir allen von Herzen danken, die ihre ganz persönliche Situation nicht in den Vordergrund gestellt haben, sondern sich um das Gemeinwohl bemüht – ich als Christin, andere aus anderen Motiven – und sich in diese Entwicklung eingebracht haben, ohne danach zu fragen: Was habe ich denn eigentlich davon? Deshalb allen ein herzliches Dankeschön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Zum Schluss – ich bin gleich am Ende meiner Rede – will ich Ihnen meinen letzten Eintrag, den ich in jenem Jahr in dieses grüne Büchlein schrieb, vorlesen – wir hatten über Geld gesprochen –:
Dieses Zitat war das letzte, das ich mir in der Volkskammerzeit aufgeschrieben habe; aber es stammt von Cicero – 55 Jahre vor Christus – und gilt heute noch. Das sollte uns das Vermächtnis wert sein.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ich habe gerade gesehen, Frau Kollegin Michalk, dass der Zettel, der neben dem Eintrag lag, den Sie vorgelesen haben, die schöne Parole enthält: Gebt dem Chaos eine Chance!
(Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Das war die Werbung der Linken!)
Das wird wohl nicht die Parole der Allianz für Deutschland gewesen sein. Jedenfalls vermute ich das.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4769469 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 93 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte anlässlich der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR |