18.03.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 93 / Tagesordnungspunkt 3

Daniela KolbeSPD - Vereinbarte Debatte anlässlich der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR

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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße besonders herzlich Sie, liebe Ehrengäste, liebe Mitglieder der Volkskammer, die am 18. März 1990 gewählt worden ist – bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent. Es waren geheime, demokratische und vor allen Dingen freiwillige Wahlen. Das war für viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger ein unglaubliches Erlebnis. Es waren Wahlen, die gut zwei Monate nach vorne verlegt worden sind, weil man sich die Situation ohne ein gewähltes, legitimiertes Parlament gar nicht mehr vorstellen konnte, weil die Situation gar nicht mehr handelbar gewesen wäre. Das heißt, es war ein Wahlkampf von nur wenigen Wochen. Man kann sagen: Das war demokratischer Ausnahmezustand im besten Sinne. Darauf folgten gut 200 Tage deutsche echt demokratische Republik. Ich finde, darauf können wir alle miteinander stolz sein. Es war der Eintritt in eine neue Welt der Freiheit und der Demokratie.

Ich selbst war damals zehn Jahre alt. Ich habe an die Wahlen selber keine Erinnerung, sehr wohl aber an die Stimmung, die damals im Land geherrscht hat. Mir persönlich wird immer in Erinnerung bleiben: Die Demokratie ist etwas Wunderbares, eigentlich fast ein Wunder, und dieses Wunder ist nicht vom Himmel gefallen, sondern erkämpft worden. Dementsprechend ist sie wenig alltäglich und sehr zerbrechlich.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Demokratie ist harte Arbeit. Jedes Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen der Volkskammer, die damals für diese 200 Tage gewählt worden ist, zeugt davon. Ich möchte Sie an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich begrüßen. Es ist für uns alle eine große Ehre, dass Sie alle heute gekommen sind. Ich wage es gar nicht, mit dem Aufzählen von Namen anzufangen. Insofern: Seien Sie alle ganz herzlich in unserer Mitte begrüßt!

(Beifall)

Es gab damals ganz unterschiedliche Motive für die Wahlentscheidung. Viele Menschen wollten in der Tat die schnelle deutsche Einheit, wollten eine massive Abkehr vom System der DDR. Es war aber für viele eben auch ein magischer Moment, die Geschicke des eigenen Landes in die eigenen Hände zu nehmen und das Land, in dem man aufgewachsen, groß geworden ist, zu reformieren.

Der 1983 ausgebürgerte Roland Jahn sitzt auch auf der Tribüne. Er war am Tag der Volkskammerwahl gar nicht wahlberechtigt. Vor wenigen Tagen hat er formuliert:

Wahlgewinner – das ist erwähnt worden – war die Allianz für Deutschland. Sie hat mit dem Slogan „Nie wieder Sozialismus“ und einer sehr zügigen deutschen Einheit geworben. In der Tat galt schon damals: Umfragen sind keine Wahlen. Für viele Parteien, inklusive der SPD, war der Wahlausgang – nicht die Wahl selber – eine Enttäuschung. Auch viele Akteure der friedlichen Revolution waren vom Wahlausgang enttäuscht. Reform der DDR – das war es, wofür sie auf die Straße gegangen waren. Das konnte schon in diesen frühen Tagen des Jahres 1990 nicht mit der Idee der rasanten, möglichst schnellen deutschen Einheit mithalten.

Die Volkskammerwahl von 1990 war aber nicht nur aufgrund der unvorstellbar hohen Wahlbeteiligung und der Umstände etwas Besonderes. Norbert Lammert hat die Volkskammer einmal als eines der fleißigsten Parlamente der Geschichte bezeichnet. Mit dabei waren auch sehr viele parlamentarische Neulinge. Viele von ihnen sitzen auf der Tribüne. Sie hatten als mutige Revolutionäre eine Diktatur zu Fall gebracht, pragmatisch an runden Tischen dafür gesorgt, dass das Land überhaupt irgendwie am Laufen gehalten wurde – dass der Müll abgeholt worden ist, und andere solche banalen, aber wichtigen Dinge –, und sind dann in die Volkskammer gewählt worden. Auch dort hatten sie große Aufgaben vor sich: das Parlament überhaupt erst zum Laufen, zum Funktionieren zu bringen, und zwar ganz ohne historische Schablone – Kollegin Michalk hat das gerade in eindrücklichen Worten geschildert –, historische Weichen zu stellen für das ganze Land und für die Zukunft der Menschen und sich selbst direkt wieder abzuschaffen. Das ist eine einzigartige Geschichte, und wir ziehen vor den Kolleginnen und Kollegen dieser Volkskammer unseren Hut.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Das war auch Anfang 1990 spürbar: Dieser jungen Demokratie wohnte ein Zauber inne. Und danach? Unsere Beauftragte für die neuen Länder, Iris Gleicke, hat das in der Debatte zum 25. Jahrestag des Mauerfalls sehr einfühlsam und differenziert ausgedrückt: Sie hat auf die Gewinner der Einheit hingewiesen, aber auch auf die Verlierer, die sich auch heute oftmals nicht verstanden und gehört fühlen. Es gibt nur eine Miniminimini-Minderheit, die die DDR zurückhaben möchte, aber eben sehr viele, die ambivalente, also sehr gute, aber gleichzeitig auch negative, Gefühle zur Einheit und – ganz eng damit verknüpft – zur Demokratie haben, und wir tun gut daran, uns damit auseinanderzusetzen. Die Aufbruchstimmung ist längst verflogen, die Demokratie ist längst erwachsen geworden, aber auch als erwachsene Demokratie ist sie geprägt von dieser Geschichte und auch von der Vorgeschichte.

Wenn ich an die Demokratie Ostdeutschlands denke, dann denke ich an viel Licht und auch an viel Schatten. Ich würde mir wünschen, dass wir auch über das Licht sprechen. Die Zustimmung zur Demokratie steigt in Ost und West, und Ostdeutschland holt auf. Die Zustimmung zur Demokratie ist von erschreckenden 47 Prozent im Jahr 2003 auf immerhin 74 Prozent im Jahr 2013 gestiegen – unter jungen Menschen gibt es eigentlich kaum noch einen Unterschied zwischen Ost und West; Deutschland ist dort im besten Sinne zusammengewachsen –, aber gleichzeitig haben wir eine erschreckend niedrige Wahlbeteiligung, zum Beispiel bei den letzten Landtagswahlen nur um die 50 Prozent. Gerade die Jungen gehen erschreckend selten zur Wahl. Man muss leider konstatieren, dass sich Ost und West an dieser Stelle im Negativen einander annähern. Das Gefühl, etwas mit Wahlen verändern zu können, scheint – im scharfen Kontrast zu 1990 – für viele verloren gegangen zu sein.

Auch das Phänomen Pegida hat uns aufmerken lassen. Da schleudern uns, also „denen da oben“, die Demonstranten in Dresden schweigend ihre ganze Verachtung entgegen. Es ist symptomatisch, dass sie den Ruf „Wir sind das Volk!“ nutzen. Das ist einerseits eine Anknüpfung an die Tradition der friedlichen Revolution und auch ein bisschen der Versuch, diese Kraft aufzunehmen, andererseits ist das aus meiner Sicht eine massive Anmaßung. Laut Forsa waren nur 3 Prozent der Dresdener bisher bei einer Pegida-Demonstration, 89 Prozent lehnen eine Teilnahme strikt ab, und drei Viertel der Dresdener antworten auf die Frage, was das größte Problem der Stadt sei: Pegida. – Ich sage diesen Demonstranten: Ihr habt das Recht, zu demonstrieren und eure Meinung zu sagen – dafür sind in der Tat im Jahr 1989 Hunderttausende auf die Straße gegangen –, aber anders, als ihr das zum Ausdruck bringt, habt ihr keinen Anspruch auf Applaus. Im Gegenteil: Viele Argumente, gerade die, die sich gegen die Schwächsten der Gesellschaft, etwa Flüchtlinge, richten, haben massiven Widerspruch verdient, und ich freue mich, dass sie ihn auch erhalten.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Demokratie ist eben kein „Wünsch dir was“, sondern harte Arbeit, Auseinandersetzung, Miteinander-Reden, Geduldsprobe und manchmal Zumutung.

Ich möchte mich zum Abschluss gerade bei denjenigen, für die das 1990 nur ein kurzer Ausflug in die große Politik war, die eigentlich Ingenieure, Ärzte oder was auch immer waren, herzlich dafür bedanken, dass sie den Sprung ins kalte Wasser der Demokratie gewagt haben. Sie sind ein großes Vorbild für uns alle, und ich würde mir wünschen, dass sich ganz viele junge Menschen in unserem Land an ihnen ein Vorbild nehmen.

Demokratie ist harte Arbeit, aber sie lohnt auch. Das sieht man, wenn man heutzutage eine beliebige Stadt in Ostdeutschland besucht und mit den Menschen dort spricht.

Herzlichen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4769482
Wahlperiode 18
Sitzung 93
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte anlässlich der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR
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