Iris GleickeSPD - Vereinbarte Debatte anlässlich der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Ich beziehe in diese Anrede die Abgeordnetenkollegen der letzten und der einzigen frei gewählten Volkskammer ein. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 war ein Ereignis von historischer Tragweite, nicht nur, weil sie die erste und zugleich einzige freie, gleiche und geheime Volkskammerwahl war, die in der DDR je stattgefunden hat. Alle vorherigen Volkskammerwahlen waren eine lächerliche Farce. Dazu ist im Mai des vergangenen Jahres alles und sehr viel Richtiges gesagt worden.
1990 gab es eine Wahlbeteiligung, von der wir heute nur noch träumen können. Damals sind über 93 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen. Über 93 Prozent: Eine so hohe Wahlbeteiligung hat es bei Bundestagswahlen in der alten Bundesrepublik nie gegeben.
1972, nach dem berühmten Willy-Brandt-Wahlkampf, erreichte man 91,1 Prozent. Nur zum Vergleich: Bei der letzten Bundestagswahl haben wir gerade einmal 71,5 Prozent erreicht. Mich macht das sehr nachdenklich, auch im Hinblick darauf, welche großen Hoffnungen wir Ostdeutschen damals mit der ersten und einzigen freien Volkskammerwahl verbunden haben.
Die Demokratie war uns unglaublich wichtig. Schließlich hatten wir sie mit einer friedlichen Revolution erstritten und die Mauer niedergerissen, die damals die Deutschen von Deutschen trennte. Wie man eine Diktatur abschüttelt, wie man Mauern überwindet, das hatten wir gelernt; das wussten wir im März 1990. Von der ganz praktischen Arbeit in einem Parlament, von parlamentarischen Verfahren und von der knochenharten Auseinandersetzung mit den Details einer Gesetzgebung wussten die meisten von denen, die 1990 in die Volkskammer gewählt wurden, nicht allzu viel. Umso größer muss heute unser Respekt vor diesen Frauen und Männern sein, die zum Teil Tag und Nacht geschuftet haben, um sich einzuarbeiten, um ihre Ideen zu verwirklichen, um den großen Ansprüchen gerecht zu werden, die mit ihrer Wahl verbunden waren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Auch darin sind sie uns ein Vorbild.
Es wurde damals sehr schnell klar, dass das wichtigste Ziel des Parlaments eigentlich darin bestand, sich selbst abzuschaffen, so paradox das auch klingen mag. Denn nur fünf Monate später war es so weit. Da erklärte die Volkskammer den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zum 3. Oktober 1990. Die innerste und tiefste Bedeutung dieser historischen Entscheidung vom 23. August 1990 liegt für mich darin, dass das eine Entscheidung in Freiheit war. Für mich ist deshalb der 23. August 1990 der eigentliche Tag der deutschen Einheit. Die Ostdeutschen sind nicht erst durch die staatliche Wiedervereinigung zu freien Bürgern geworden. Man hat uns diese Freiheit nicht geschenkt oder gnädig zugestanden. Wir haben sie uns selbst erkämpft.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das – vielleicht vor allem das – ist es, worauf wir Ostdeutsche stolz sein dürfen und worauf wir eigentlich über alle Parteigrenzen hinweg stolz sein müssen.
Wir haben in Ostdeutschland in den letzten 25 Jahren unglaublich viel erreicht, trotz einiger Fehler im Einigungsvertrag, trotz Treuhand, trotz Deindustrialisierung, trotz Massenarbeitslosigkeit, trotz Abwanderung. Es ist noch längst nicht alles gut, aber vieles ist in den zurückliegenden 25 Jahren gut geworden. Bei der Wirtschaftskraft, bei den Löhnen, beim Steueraufkommen, überall hinkt der Osten dem Westen hinterher. Aber es gibt eine gute Perspektive, immer unter der Voraussetzung, dass man den Osten nach den Einheitsfeiern nicht im Regen stehen lässt.
Es geht aber nicht immer nur ums Geld, auch wenn man manchmal fast den Eindruck gewinnen könnte. Wir haben bei der Aufarbeitung der Vergangenheit viel erreicht. Aber auch hier ist noch nichts beendet und vorbei. Wir müssen weiter über die Opfer der Diktatur reden. Wir müssen vor allem mit diesen Opfern reden, mit den Opfern von staatlicher Willkür, von Stasi und Zwangsarbeit. Das Geschrei der Feinde kann man vielleicht vergessen. Den Verrat der Freunde, der Nachbarn, der Kollegen, der Lehrer, ja selbst den der eigenen Eltern, einen solchen Verrat vergisst man nie. Es ist nämlich auch da wirklich noch längst nicht alles gut. Es sind noch längst nicht alle Wunden verheilt. Bei manchen, bei viel zu vielen, weiß ich, dass sie niemals verheilen werden. Das sind Wunden, die eitern und schwären und immer wieder aufbrechen. Das liegt auch daran, dass viele nach 25 Jahren endlich zur Normalität und zur Tagesordnung übergehen möchten. Da sage ich laut und deutlich: Nein.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich höre sie doch, diese subtilen und versteckten Botschaften. Diese Botschaften lassen sich im Grunde doch so zusammenfassen: Das alles tut uns wirklich leid, aber wir können und wir wollen das Reden über das Leid nicht mehr ertragen, jedenfalls nicht außerhalb der würde- und weihevollen Feierstunden. – Das kann und das darf nicht sein. Das darf diese Gesellschaft, das darf dieses gesamtdeutsche Parlament nicht zulassen. Auch das gehört zum Erbe der Volkskammer, dass wir nicht aufhören dürfen, uns zu erinnern.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich habe vor kurzem die Studie „Deutschland 2014“ vorgestellt, die klare Belege dafür liefert, wie sehr Ost und West seit der Wiedervereinigung ganz im Sinne Willy Brandts schon zusammengewachsen sind. Aber diese Studie stellt leider auch fest, dass das Vertrauen in Politiker und Parteien in beiden Teilen Deutschlands gleich schlecht ist. Das ist schon eine ziemliche Klatsche für uns Volksvertreter. Die Ostdeutschen sind da durchweg noch skeptischer, kritischer und distanzierter als die Westdeutschen. Die Politik hat im Osten nur 25 Jahre nach der Volkskammerwahl ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Das sollte uns alle sehr nachdenklich machen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Thüringen! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sachsen!)
Das würde ich mir jedenfalls wünschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, die frei gewählten Abgeordneten der Volkskammer haben eine Entscheidung in Freiheit getroffen, für freie Bürgerinnen und Bürger, die in ihrer ganz großen Mehrheit schon in den Zeiten der Diktatur versucht haben, ein anständiges Leben zu führen. Das gilt es endlich anzuerkennen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Zum Schluss dieser Debatte erhält die Kollegin Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4769578 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 93 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte anlässlich der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR |