Brigitte PothmerDIE GRÜNEN - Fachkräftekonzept der Bundesregierung
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Nahles, Sie haben gerade ganz stolz gesagt, dass Sie die Ziele, die Sie für 2020 anpeilen, im Grunde schon heute erreicht haben. Die Frage, die sich aus meiner Sicht dazu stellt, ist, ob die Bilanz auch 2020 überhaupt noch so positiv sein wird. Weiter stellt sich die Frage, ob die Prognose, die Sie in Ihrem Bericht für 2030 angeben, nämlich dass sich die Zahl der Erwerbstätigen nur um 1 Million reduziert, zutrifft. Ich bin sehr skeptisch. Mit dieser Prognose ist die Bundesregierung relativ allein auf weiter Flur. Alle seriösen Arbeitsmarktforscher, wie erst letzte Woche das IAB, gehen davon aus, dass die Zahl der Erwerbstätigen um mindestens 3 Millionen zurückgehen wird.
Ich habe Ihren Fortschrittsbericht genau gelesen, und ich habe keine substanziellen Gründe dafür gefunden, dass nicht die Forscher recht haben sollten, sondern die Bundesregierung. Ich finde, da müssten Sie noch einmal nachlegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ja, es ist richtig: Die Erwerbsbeteiligung der Frauen hat deutlich zugenommen, nämlich um satte 21 Prozent seit den 90er-Jahren. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist aber: Das Erwerbsarbeitsvolumen von Frauen ist nur um magere 4 Prozent gestiegen. Mit anderen Worten: Im Prinzip teilen sich immer mehr Frauen das gleiche Arbeitsvolumen. Das hilft aber bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels nicht weiter. Es hilft im Übrigen auch den Frauen nicht weiter. Ich nenne nur das Stichwort Altersarmut.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich sage Ihnen: Ihr viel beschworenes Jobwunder ist vor allen Dingen ein Teilzeiteffekt. Dies entspricht nicht den Wünschen der Frauen. Die allermeisten Frauen wollen mehr arbeiten, als sie aktuell tatsächlich arbeiten. Das kann auch nicht Ihr Ziel sein, wenn Sie den Fachkräftemangel bekämpfen wollen. Wenn Sie dieses Erwerbspotenzial – das ist das größte Erwerbspotenzial, das wir hier im eigenen Land haben: gut ausgebildete Frauen, hochmotivierte Frauen – wirklich heben wollen, dann müssen Sie den Frauen helfen, aus der Sackgasse von Ehegattensplitting und Minijobs herauszukommen, dann müssen Sie an diesen strukturellen Bedingungen etwas ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ja, Frau Nahles, Sie haben recht: Der Anteil der Älteren unter den Beschäftigten hat zugenommen, insbesondere bei der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen. Ich fürchte nur, das ist ein kurzes Glück. Uns droht nämlich der Nahles-Knick:
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie haben einen Knick in der Optik! Das Einzige, was hier knickt, ist Ihre Optik!)
– Ja, Ehre, wem Ehre gebührt, Frau Nahles. – Bereits im ersten halben Jahr seit Einführung der Rente mit 63 haben 60 000 Ältere ihre Arbeit aufgegeben.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nach 45 Beitragsjahren! Dann haben die das verdient!)
Ich spreche hier ausdrücklich nur von denjenigen, die wir „Vorzieher“ nennen, also von denen, von denen wir wissen, dass sie ohne dieses Angebot länger gearbeitet hätten. Das sind 16 Prozent der Beschäftigten dieser Altersgruppe. Auf der einen Seite wollen Sie die Erwerbsbeteiligung Älterer erhöhen, und auf der anderen Seite setzen Sie Anreize, aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wollen Sie, dass sie malochen bis zum Tode, oder was? 45 Jahre reichen doch wohl!)
Ich will das mal mit einem niedersächsischen Spruch kommentieren: Sie stoßen mit dem Hintern um, was Sie mit den Händen aufgebaut haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)
Ja, die Zuwanderung hat sich erfreulich entwickelt. Aber das ist eine Zuwanderung vor allen Dingen aus den EU-Krisenstaaten. Wir hoffen doch wahrscheinlich alle gemeinsam, dass diese Länder die Krise so schnell wie möglich überwinden. Aber dann wird ein erheblicher Teil derjenigen, die aus diesen Krisenländern kommen, in ihre Heimat zurückgehen.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie Zuwanderung wirklich nachhaltig gestalten wollen, dann müssen Sie sich auf die Zuwanderung aus Drittstaaten konzentrieren. Aber, meine Damen und Herren, dies setzt natürlich voraus – jetzt richte ich mich vor allen Dingen an die rechte Seite des Hauses –, dass Sie die Ressentiments in Ihren eigenen Reihen zunächst einmal bekämpfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Das setzt auch voraus, dass Sie tatsächlich ein modernes Einwanderungsgesetz auf den Tisch legen und eine echte Willkommenskultur gestalten.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Arbeitslosen sagen.
Kurz.
Kurz, ja. – Auch da liegt ein riesiges Potenzial. Aber um das zu heben, müssten Sie zunächst einmal in die Arbeitslosen investieren, damit sie zu Fachkräften werden. Dann haben diese Menschen auch eine Chance. Das ist nicht nur ein Projekt, das diesen Menschen konkret hilft, das ist auch aus ökonomischen Gründen richtig und notwendig und sinnvoll, weil der Fachkräftemangel das größte Wachstumsrisiko werden könnte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich sage Ihnen: Wenn Sie diese Widersprüche, die Sie in Ihrer Politik haben, nicht auflösen – bei den Frauen, bei den Älteren, bei der Zuwanderung –, dann werden Sie Ihr Ziel der Bekämpfung des Fachkräftemangels jedenfalls nicht erreichen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Diesen niedersächsischen Spruch kenne ich aus Bayern auch; aber wir drücken es ein bisschen drastischer aus.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollte es halt aus dem Inland bringen!)
Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Mast für die SPD.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4774471 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 94 |
Tagesordnungspunkt | Fachkräftekonzept der Bundesregierung |