Susann RüthrichSPD - Aktuelle Stunde/ Reiches Land - Arme Kinder
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fange einmal mit einer Frage an: Wie fühlt es sich eigentlich an, als Kind in Deutschland arm zu sein? Vielleicht wie in der Szene, die mir die Direktorin einer Grundschule beschrieben hat und die sich dort jeden Tag abspielt.
Diese Grundschule hat 280 Schüler, und es gibt einen Hort mit 220 Plätzen. Ich sage mir, es fehlen ja 60 Plätze, und frage mich, wie ausgesucht wird, wer einen Hortplatz bekommt und wer nicht. Nun, es gibt Auswahlkriterien, die der Stadtrat und der im Übrigen von den Linken getragene Bürgermeister mit festlegen: Vorrang haben die Kinder, deren Eltern beide arbeiten. Okay, was heißt denn das praktisch? Praktisch heißt das: Kurz vor dem kostenpflichtigen Mittagessen kommt ein Bus, der 60 Kinder abholt und zur Kinderarche bringt. Dort gibt es kostenloses Mittagessen. Wenn die Kinder einmal in der Kinderarche sind, kommen sie nicht mehr zum Schulhort zurück. Und siehe da: Die Hortplätze reichen, weil die armen Kinder woanders hingefahren wurden. Diese Kinder bekommen weder die Nachhilfe noch die Hausaufgabenbetreuung noch die Musikangebote, die die anderen Kinder im Hort erhalten.
Klar, ich könnte mich jetzt empören. Ich kann aber auch fragen: Was tun wir jetzt, um genau diesen Kindern zu helfen? Jedes Kind muss die Chance auf einen Hortplatz, auf einen Kitaplatz und auf eine Ganztagsbetreuung haben. Da darf nicht selektiert werden, wer die Plätze bekommt. Da, wo die meisten armen Familien wohnen, da müssen die besten Schulen, die besten Kitas, die besten Jugendclubs, die aktivsten Vereine und Verbände hin, weil sie genau dort für die Kinder am wichtigsten sind, deren Eltern sich privaten Musikunterricht und private Nachhilfe nicht leisten können.
(Beifall bei der SPD)
Genau dann – davon bin ich überzeugt – werden die von Ihnen benannten und in der Bertelsmann-Studie aufgezeigten Entwicklungsnachteile, unter denen viele arme Kinder leiden, ausgeglichen werden; zumindest ist es ein Baustein dazu.
Die Kriterien für Aufnahme in den Hort oder in die Kita sind Sache der Kommunen. 5 Milliarden Euro zusätzlich stellen wir den Kommunen zur Verfügung, damit sie überhaupt in der Lage sind, jedem Kind eine Chance zu geben. Wir fördern außerdem den Ausbau der Kinderbetreuung. Wir entlasten die Länder. Das alles sind Maßnahmen, um Luft dafür zu schaffen, Infrastruktur um die Kinder herum aufzubauen. Diese Mittel müssen die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und in den Kommunen natürlich auch nutzen. Das sage ich nicht nur meinen Genossinnen und Genossen, sondern da bitte ich einfach alle Fraktionen, auch die von der Opposition, auf ihre Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort die Entscheidungen zu treffen haben, wie die Infrastruktur für die Kinder gestaltet wird, entsprechenden Einfluss zu nehmen.
Eine sehr gute Infrastruktur vor Ort ist aber nur das eine. Das allein wird nicht reichen. Leider ist es tatsächlich so, dass Kinderarmut von den Eltern vererbt wird. Deswegen müssen wir an dem Einkommen der Eltern bzw. der Familien etwas machen. Wir haben den Mindestlohn eingeführt – dadurch haben wir die Tariflöhne gestärkt – und damit das Einkommen von vielen Familien verbessert. Mit dem Entgeltgleichheitsgesetz, das wir wollen und das wir einführen werden, werden wir dafür sorgen, dass eine Mama an ihrem Arbeitsplatz in der Stunde genau dasselbe wie der Papa bekommt, der die gleiche Arbeit macht.
(Beifall bei der SPD)
Wir als SPD-Fraktion kämpfen für eine spürbare Kindergelderhöhung. Alleinerziehende wollen wir stärker unterstützen. Ich könnte hier noch weitere Maßnahmen aufzählen. Wenn Sie nun sagen: „Das alles reicht noch nicht“, gebe ich Ihnen sogar recht. Auch wir sind ja für kostenlose Bildung, und zwar von Anfang an. Das heißt dann auch, dass das Mittagessen, der Schülertransport und die Schulmaterialien kostenfrei sind. Auch über die Kindergrundsicherung kann man mit mir gerne diskutieren. Diese Diskussion werden wir auch in der Kinderkommission im dritten Drittel dieses Jahres führen.
Ganz nebenbei: Mein SPD-Landesverband hat die Kindergrundsicherung bereits beschlossen. Wir gehen nämlich davon aus, dass jedem Kind das beste Umfeld vor Ort garantiert werden muss. Das hat zum einen etwas mit der persönlichen materiellen Ausstattung zu tun. Am Ende des Monats soll es eben nicht nur noch Toastbrot geben. Das hat zum anderen etwas damit zu tun, wie die Infrastruktur vor Ort aussieht, die jedes Kind vorfindet.
Eine Vision zu haben, ist gut. Das bedeutet aber, heute mit praktischer Politik Schritte in die richtige Richtung zu machen, um diese Vision umzusetzen. Das hilft den Kindern heute unmittelbar. Alle Kinder, egal ob arm, ob reich oder weder noch, können sich dabei auf unsere Unterstützung verlassen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Der Kollege Norbert Müller hat für die Fraktion Die Linke das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mich ärgert die Debatte, wie wir sie gerade geführt haben – da kann ich mich an ganz vielen Punkten Katja Dörner anschließen –, maßlos. Sie ärgert mich maßlos, weil von vornherein klar war: Ab dem Moment, zu dem wir die Aktuelle Stunde beantragt haben, wird beschwichtigt und wird vor allen Dingen erklärt werden, die Koalition tue schon alles, die Situation sei nicht so schlimm, das Problem bekomme man in den Griff und man müsse jetzt abwarten, wie diverse Maßnahmen wirkten.
Jörn Wunderlich hat die Geschichte der Kinderarmut seit einer Studie der AWO von 1989 präsentiert. Ein Blick auf diese Dokumente zeigt: Die Kinderarmut hat sich seit dieser Zeit nicht reduziert. Sie ist vererbt worden. Sie ist wie einbetoniert. Egal welche empirischen Erhebungen dazu gemacht worden sind: Wir kommen immer zu den gleichen Ergebnissen.
Fast alle Bundesregierungen seit der Wende haben erklärt, sie hätten das Problem erkannt, sie würden am Problem arbeiten, sie wollten Kinderarmut reduzieren. Doch praktisch ist dies niemandem gelungen. Was bedeutet das in der Praxis? Wozu hat das geführt? Es bleibt bei Sonntagsreden, die mit belegter Stimme vorgetragen werden und hinter denen man sich dann versteckt, statt Taten zu präsentieren.
Ich möchte das mit Beispielen unterlegen. Die Bundesfamilienministerin Schwesig hat 2009 noch als Landespolitikerin in einem Interview erklärt – ich zitiere –:
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Da hat sie recht!)
– Da hat sie recht gehabt. – Fünf Jahre später erklärt Frau Schwesig, nun als Bundesfamilienministerin:
Dazwischen steht der Koalitionsvertrag, den Sie unterschrieben haben, dieses Dokument des politischen Vollversagens. Auf 130 Seiten kein Wort zur Kinderarmut und kein Konzept, Kinderarmut wirksam zu beseitigen. Aber Sie kündigen es permanent an.
Das Ergebnis kann man heute in einer Presseerklärung des Deutschen Kinderhilfswerks – darauf komme ich noch zurück – nachlesen. In einer Studie, die von diesem 2014 erstellt wurde, haben 72 Prozent der Befragten gesagt, dass gesellschaftliche und politische Verantwortungsträger – damit meinen sie uns, aber vor allem auch die Bundesregierung, weil sie zunächst an diesedenken – sehr wenig oder zu wenig tun, um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen. Denn was sie in den letzten 25 Jahren erlebt haben, sind Sonntagsreden, und letzten Endes hat sich nichts getan.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So ist es! Leider!)
Ich kann mich Katja Dörner anschließen und fordere Sie auf: Ergreifen Sie Maßnahmen! Ich glaube, wir sind uns in vielen Punkten einig gewesen; das war auch diese Woche im Familienausschuss der Fall. Ergreifen Sie also konkrete Maßnahmen, um Kinderarmut zu beseitigen!
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn Sie als Koalition auf die Grünen oder uns nicht hören wollen – das kann ich nachvollziehen –, dann hören Sie doch auf unabhängige Sachverständige und auf das Deutsche Kinderhilfswerk. Ich zitiere aus der schon erwähnten Presseerklärung:
Jetzt werden alle sagen: „Das können wir unterzeichnen“, und die Koalition wird in den folgenden Reden sagen: Das tun wir übrigens schon mit allen unseren Maßnahmen.
Aber warum um Himmels willen kommen wir dann immer wieder wie auch in der Bertelsmann-Studie zu denselben Ergebnissen? Warum hat sich in den letzten Jahren nichts getan? Weil Ihre Maßnahmen nicht wirken, weil sie wirkungslos sind und weil Sie im besten Fall, wenn Sie über Kinderarmut reden und Entlastungen ankündigen, am Ende an die Besserverdienenden denken, aber bei denjenigen, bei denen die Kinderarmut sozusagen einbetoniert ist und die schon mit der Geburt sozial deklassiert werden, davon nichts ankommt. Warum ist das Kindergeld immer noch auf Leistungen nach dem SGB II anzurechnen? Warum ist das Elterngeld immer noch anzurechnen? Schaffen Sie das ab! Das sind ganz einfache Maßnahmen. Sie wirken unmittelbar und begrenzen Kinderarmut.
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass das Thema viel zu ernst ist, um hier weitere Sonntagsreden zuzulassen, uns weiter darüber auszutauschen, welch dramatische Kinderarmut wir in den Wahlkreisen erleben, und hier entsprechende Beispiele zu präsentieren. Die kennen wir alle. Lassen Sie uns zu dem Punkt kommen, erste, auch monetäre, Maßnahmen zu ergreifen, und zwar mehr als 4 oder 6 Euro Kindergelderhöhung, um Kinderarmut wirksam zu beseitigen. Das muss umgehend geschehen. Die Lage ist mit über 2,5 Millionen betroffenen Kindern viel zu ernst.
Die Linke wird nicht die Fraktion sein, die sich im Deutschen Bundestag gegen Maßnahmen stellt, wenn es ernsthaft darum geht, Kinderarmut zu beseitigen. Wenn die Koalition und die Bundesregierung ernsthaft bereit sind, solche kleinen Schritte zu gehen, wie zum Beispiel das Kindergeld anrechnungsfrei zu stellen, werden wir uns Ihnen nicht in den Weg stellen, sondern Sie konstruktiv begleiten. Aber wir werden Sie auch weiter treiben, wenn es bei den Sonntagsreden über Kinderarmut bleibt und Sie letztlich keinerlei Ergebnisse vorlegen außer einer weiteren Studie in fünf Jahren, in der dann wieder festgestellt wird, dass Kinderarmut ein ernstes Problem ist und sich nach wie vor nichts getan hat.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Kai Whittaker das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4774900 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 94 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde/ Reiches Land - Arme Kinder |