Rüdiger VeitSPD - Vereinbarte Debatte zur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Der tragische, der sehr traurige Anlass für diese Debatte hat im Ton dieser Debatte Gott sei Dank seinen Niederschlag gefunden. Darüber bin ich froh. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das so kommt.
Nur an einer Stelle kam es zu einer Personalisierung, die ich gerne weggeräumt hätte. In aller freundschaftlichen und kollegialen Verbundenheit zu Ulla Jelpke möchte ich nicht stehen lassen, dass es eine persönliche Verantwortung des amtierenden Bundesinnenministers für die tragischen Ereignisse, die uns hier zusammengeführt haben, gibt. Diese Personalisierung ist nicht angemessen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Im Übrigen bin ich über den Zehn-Punkte-Plan froh. Aber ich sage auch ausdrücklich – die Mitverursacher werden das vielleicht gar nicht anders sehen –: Das reicht nicht. Wenn für uns klar ist, dass wir eine umfassendere Seenotrettung im Mittelmeer bis weit unter die libysche Küste brauchen, um die Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren, dann mutet es mich aus europäischer Sicht ein bisschen kleinkrämerisch an, wenn dafür nun statt 3 Millionen vielleicht 6 Millionen Euro im Monat zur Verfügung gestellt werden, während wir vorher über ein Jahr lang erwartet haben, dass Italien 9 Millionen Euro pro Monat für sein Engagement aufwendet. Ich denke, hier muss deutlich mehr passieren. Das wäre auch meine Erwartung an den Gipfel, der morgen stattfindet. Das würde ich mir sehr wünschen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Um auch das gleich abzuräumen: Die Logik und die Argumentation, weil die Operation Mare Nostrum so viele Menschen vor Seenot gerettet hat, hätte sie einen starken Pull-Effekt gehabt und dazu geführt, dass sich mehr Flüchtlinge auf den Weg gemacht haben, können nicht wahr sein. Wenn diese Betrachtungsweise richtig wäre, müsste man den Maßstab einmal umdrehen und sagen: Gäbe es keine Seenotrettung, wäre die Gefahr für die Menschen, ums Leben zu kommen, so groß und der Abschreckungseffekt entsprechend stark, sodass dann vielleicht keine mehr kommen. Diese Argumentation dürfen wir uns bitte schön weder in die eine noch in die andere Richtung zu eigen machen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich warne auch davor, die ganze Betrachtung auf das verbrecherische Schleuserunwesen zu konzentrieren. Denn ich glaube nicht, dass eine Vielzahl von Schleusern dazu führt, dass es viele Flüchtlinge gibt. Vielmehr glaube ich, dass es viele und immer mehr Schleuser gibt, weil es viele Flüchtlinge gibt.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir müssen uns auch vor der Einschätzung hüten, es könnte heute gelingen, eine Wüste und vielleicht auch das Mittelmeer auf eigene Faust, ohne Unterstützung, ohne Organisation und ohne Schleuser zu durchqueren. Das ist per definitionem eigentlich gar nicht denkbar. Insofern sage ich noch einmal: Wir dürfen nicht glauben, dass wir, wenn wir das eine Problem wirksam bekämpft haben, wir das andere Problem los sind. Der Leidensdruck der Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, ist so groß, dass sie sich, egal wer sich um die Frage des Transports und der Organisation kümmert, weiterhin auf den Weg machen werden. Die Ursachen, die wir in der Tat alle bekämpfen wollen, sind bereits benannt worden.
Ich will jetzt mit Blick auf den Gipfel, der stattfindet, an die Bundesregierung und namentlich auch an die Bundeskanzlerin drei Bitten äußern. Ich sage wirklich ohne jeden falschen Unterton: Sie wird ja aus der Sicht mancher hier im Hause zu Recht als eine der mächtigsten Frauen nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt eingeschätzt. Deswegen bitte ich, dass sie mit allem Druck und der Durchsetzungskraft, die ihr eigen sein kann, jetzt an dieser Stelle beharrlich ist, dass sie Folgendes bitte umsetzt und nicht nur mit den Kolleginnen und Kollegen darüber redet.
Der erste Punkt ist eine angemessene Verteilung von Flüchtlingen in ganz Europa.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das heißt nicht automatisch, dass wir in Deutschland mehr aufnehmen müssten, im Gegenteil: nach Maßgabe der letzten Zahlen sogar etwas weniger.
(Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister: Je nachdem!)
– Je nachdem – in der Tat –, je nach der Betrachtung. – Aber ich weise darauf hin – ich bitte, jetzt mit ein paar Sekunden Redezeit ein bisschen großzügig zu sein –: Es gibt eine kleine Schwachstelle in der Argumentation. Solange Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nicht in dieser Weise betroffen war, haben alle Bundesregierungen und Innenminister, egal welcher Couleur, immer gesagt: Wir können mit Dublin eigentlich ganz hervorragend leben. Ich sage einmal: Solange es uns nicht in diesem Maße betrifft, ist es für uns vielleicht ein weniger großes Problem, wenn die Mittelmeeranrainerstaaten mit einer großen Anzahl von Flüchtlingen belastet sind. Das ist auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Aber trotzdem müssen wir energisch und intensiv in diese Richtung weiter handeln. Das wäre meine Bitte zu Punkt eins.
Zu Punkt zwei: Resettlement, legale Möglichkeiten für Flüchtlinge, zu uns zu kommen. Die Zahl ist schon genannt worden: 2013 gab es ein Resettlement-Programm in ganz Europa im Umfang von etwas über 5 000 Menschen. In der gleichen Zeit kamen über 400 000 Flüchtlinge nach Europa. Über 400 000! Man betrachte einmal diese Relation. Oder – noch eine andere Zahl zum Vergleich –: Im Libanon gibt es bei etwas über 4 Millionen Einwohnern 1,5 Millionen Flüchtlinge. Rechnen Sie das einmal auf Deutschland um! Das wären 27 Millionen Flüchtlinge in Deutschland – 27 Millionen! –, wobei wir noch ganz andere Voraussetzungen haben.
Das heißt, es ist schändlich, wenn sich Europa seiner Verantwortung hier nicht stellt und nicht zu ganz anderen Zahlen und Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen, die nun wirklich schutzbedürftig sind, kommt. Auch da würde ich Sie, Frau Bundeskanzlerin, bitten, sich nachdrücklich einzusetzen und Druck zu machen, damit man nicht nur darüber redet, sondern auch zu einem Ergebnis kommt.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dritte und letzte Bemerkung. Ich bin ein kleines bisschen skeptisch, wenn es um Aufnahmezentren, Internierungslager und Beratungsmöglichkeiten im Vorfeld geht. Ich stelle klar: Alles, was hilft, zu verhindern, dass sich Menschen unter Lebensgefahr über das Mittelmeer auf den Weg machen müssen, ist eine gute Idee. Aber ob all das funktionieren kann, weiß ich nicht.
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Die Franzosen haben das doch auch mal gemacht!)
Solche Überlegungen hat auch schon Ihr Amtsvorvorvorgänger, Otto Schily, mit seinen europäischen Kollegen angestellt. Wir haben es damals nicht zu einem Ergebnis gebracht. Ich halte das auch heute für höchst problematisch. Auch bin ich mir über die Größenordnung solcher Einrichtungen in Transitländern oder Herkunftsländern überhaupt nicht im Klaren. Das gilt auch im Hinblick auf die Probleme und die Frage: Wer betreut die Menschen da eigentlich? Aber ich bitte Sie, auf europäischer Ebene zu überlegen – auch das ist eine Bitte an Sie –, ob nicht die unmittelbare Vergabe von Schutzvisa durch die Botschaften und Konsulate der bessere Weg wäre, um die Menschen in zuverlässiger Art und Weise zielgerichtet zu beraten und vielleicht zu ermöglichen, dass einige der ganz besonders Schutzbedürftigen auf legalem und ungefährlichem Wege nach Europa und somit auch nach Deutschland kommen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar und ich wäre sehr froh, wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin – nachdem schon Frank-Walter Steinmeier und Thomas de Maizière versprochen haben, sich dafür einzusetzen –, uns in der nächsten Sitzungswoche über gute Ergebnisse unterrichten könnten.
Gutes Gelingen!
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4957980 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 99 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer |