Roderich KiesewetterCDU/CSU - Bilanz des Krieges in Afghanistan
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lachende Kinder, selbstbewusste Frauen, dampfende Maschinen: Das ist das Bild, das sich mir heute bietet, wenn ich durch Kabul, Kandahar oder Masar-i-Scharif gehe. Wie war das vor acht Jahren, als ich das erste Mal in Afghanistan war? Angst, Gefahr, bedrückte Gesichter, leere Straßen oder Straßen voll von Militär. Lieber Herr Kollege Gehrcke, mit Ihren Fragen – 186 an der Zahl – haben Sie eine Fleißarbeit gemacht, aber einige wesentliche Fragen nicht gestellt: Wie ist es zu diesen Fortschritten gekommen? Und vor allen Dingen: Wie ist es passiert, dass Afghanistan in diese Katastrophe gerutscht ist? Dazu stellen Sie noch nicht einmal eine Frage.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Land wie Afghanistan mit 54 verschiedenen Volksgruppen und Stämmen, mit 45 verschiedenen Dialekten und Sprachen, ist nicht mit einem Land Europas oder einem Land auf dem amerikanischen Kontinent zu vergleichen. Es ist ein Land, das 1973 die Monarchie abgeschafft hat, das 1978 eine Diktatur weggeputscht hat, das 1992 die Kommunisten beseitigt hat und viele Jahre sowjetischer Besetzung hinter sich hatte, das 1996 die Mudschaheddin abgelöst hat und schließlich 2001 die Taliban. Keines dieser Systeme hat Afghanistan auch nur in Ansätzen stabilisiert.
Wenn wir uns an den 11. September erinnern und an die wirklich schwierigen Beschlüsse und Diskussionen damals im Bundestag – ich weiß nicht, ob Sie die Debatten nachgelesen haben, als Sie Ihre Fragen gestellt haben –,dann wird uns deutlich: Hier muss sich die internationale Gemeinschaft engagieren. Sie hat es getan. Bei einem Vergleich der Lage in den Jahren 2006/2007 mit der von heute wird klar: Es gibt erhebliche Fortschritte.
Herr Kiesewetter, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Buchholz zu?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kiesewetter. – Sie beschrieben zu Beginn Ihrer Rede quasi blühende Landschaften in Afghanistan. Wie passt das mit der Tatsache zusammen, dass die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle steigt? Das ist auch in der Antwort auf unsere Anfrage genannt, die Details sind leider nicht öffentlich.
Wir müssen auch feststellen, dass seit Oktober 2013 die genaue Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle von der Bundesregierung nicht mehr frei veröffentlicht wird. Wie sehen Sie das? Wie sehen Sie auch den Anstieg an zivilen Toten? Wie passt das mit dem Bild zusammen, das Sie am Anfang Ihrer Rede gezeichnet haben?
(Beifall bei der LINKEN)
Das Bild, das ich zeichne, ist das Bild eines Landes im Umbruch. Kinder, die Schulen besuchen, Frauen, die selbstbewusst zur Arbeit gehen, dampfende Maschinen, die zum wirtschaftlichen Aufschwung des Landes beitragen: 80 Prozent des Landes Afghanistan sind stabil. Ein Land, das über 40 Jahre – wenn Sie mir zugehört haben, wissen Sie das –, nämlich 42 Jahre lang, geschunden wurde, zwei Generationen lang, ist nicht über Nacht zu einer Demokratie westlicher Stabilität zu machen.
Was Sie mit Ihrem Ansatz verkennen, ist, dass es sich bei Afghanistan um ein fragiles Land handelt; ein Land – das muss man sehr deutlich machen –, das längst noch nicht den Standard von beispielsweise Bangladesch oder Ghana erreicht hat. Auch Ghana und Bangladesch sind fragile Staaten, aber diese bringen sich bereits in der internationalen Gemeinschaft, bei den Vereinten Nationen, ein. Sie geben etwas von dem zurück, was ihnen die internationale Gemeinschaft gegeben hat.
Afghanistan selbst – das ist das Chaos, das Sie beschreiben – ist ein Land, das dank der internationalen Hilfe zur Stabilität zurückgefunden hat. Sie aber reden es schlecht. Zu der schonungslosen Bilanz, die Sie fordern, gehört genauso schonungslos die Frage: Was hat Afghanistan ins Chaos gestürzt? Das verkennen Sie. Das habe ich versucht herauszuarbeiten. Das ist der ganz entscheidende Punkt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt natürlich auch Punkte, bei denen wir selbstkritisch nachfragen müssen: Wo müssen wir besser werden? Hier waren am Anfang die Ziele und Erwartungen mit Blick auf Afghanistan unendlich, die eigenen Mittel, die eigene Bereitschaft, sich einzubringen, äußerst begrenzt: hinsichtlich der Bereitschaft von Nichtregierungsorganisationen, sich dort zu etablieren, hinsichtlich der Bereitschaft bestimmter Staaten, sich bei der Polizeiausbildung zu engagieren – da haben wir Deutschen eine schwierige Lektion gelernt –, und hinsichtlich der Bereitschaft, die Wirklichkeit anzuerkennen.
Überlegen wir doch selbst, wie wir Anfang des letzten Jahrzehnts unserer Öffentlichkeit den notwendigen Beitrag eines Engagements nahegebracht haben. Wir haben gesagt: Wir helfen beim friedlichen Wiederaufbau. Wir haben Jahre gebraucht, bis uns klar war, dass dieses Land aus kulturellen, aus politischen, aus historischen Gründen nicht ohne Weiteres in einen friedlichen Wiederaufbau zu bringen ist.
Herr Gehrcke, Sie haben aus meiner Sicht einen gravierenden Fehler gemacht: Mit Geld allein, Stichwort 11 Milliarden Euro, bewegen Sie in Afghanistan überhaupt nichts.
Es gehört, glaube ich, inzwischen zu den Grunderkenntnissen unseres Parlaments, dass zu Entwicklung Sicherheit gehört. Ein Mindestmaß an Sicherheit ist Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade dass wir die Mission ISAF beenden konnten und sie in eine Unterstützungsmission überführt haben, zeigt, dass die internationale Gemeinschaft in Afghanistan eine Grundstabilität erreicht hat.
2011 haben wir – Frau Hänsel war damals auch dabei – in Bonn die zweite Petersberger Konferenz miterlebt. Auf dieser Konferenz wurde eine Zwischenbilanz gezogen. Dabei war klar: Afghanistan hat noch einen sehr weiten Weg vor sich. Unser Ziel war, Afghanistan bis zum Jahr 2024 zu einem Entwicklungsland wie Ghana oder Bangladesch werden zu lassen. Das ist eine schwierige Aufgabe. Wir gehen diesen Weg durch eine verstärkte internationale Kooperation, Energiepartnerschaften und die Einbindung von Initiativen wie „Neue Seidenstraße“ oder „Heart of Asia“. Wir gehen ihn auch dank Botschafter Koch und Botschafter Steiner, denen es gelungen ist, eine große Kontaktgruppe von Staaten einzubeziehen. Denn es geht auch um die Nachbarn: ohne Iran kein Kümmern um Flüchtlinge, ohne Pakistan kein Grenzschutz.
Wir haben uns, glaube ich, damals zu sehr um Afghanistan und zu wenig um die Nachbarstaaten gekümmert.
(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Meine Damen und Herren, das sind die wahren Lektionen, die wir gelernt haben.
Vor anderthalb Stunden hat unser Wehrbeauftragter, der noch anwesend ist, in diesem Saal seine letzte Rede als Wehrbeauftragter gehalten. Ihm und seinen Vorgängern ist es zu verdanken, dass die Bundeswehr in Afghanistan realistischer geworden ist und dass unsere Politik eine bessere Beratung bekommen hat, was militärisch, politisch, sozial und wirtschaftlich in Afghanistan überhaupt geleistet werden kann. Lassen Sie mich an dieser Stelle unserem Wehrbeauftragten für sein hohes persönliches Engagement, aber auch für das seiner Vorgänger danken.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie geht es weiter? Es ist nichts schönzureden; aber dass in Afghanistan Frauen selbstbewusst zur Arbeit gehen können, dass es dort statt 100 000 Schülern nunmehr 7 Millionen Schülerinnen und Schüler gibt und dass sich unterschiedliche Regionen besser entwickeln, als wir es je gedacht haben, ist ein Verdienst der internationalen Gemeinschaft.
Unsere Lehre ist, dass wir nie mehr blauäugig und ohne die notwendigen Mittel in solche Einsätze gehen. Das müssen wir uns selbst ins Stammbuch schreiben.
Lassen Sie uns gemeinsam für die Zukunft Afghanistans arbeiten. Im Jahr 1915 haben die ersten diplomatischen Kontakte stattgefunden. Wir sind eines der wenigen Länder, zu denen Afghanistan über drei Generationen hinweg seit 100 Jahren Vertrauen aufgebaut hat. Lassen Sie uns dieses Vertrauen auch in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Omid Nouripour von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4963874 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 100 |
Tagesordnungspunkt | Bilanz des Krieges in Afghanistan |