Omid NouripourDIE GRÜNEN - Bilanz des Krieges in Afghanistan
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über den Afghanistan-Einsatz und die Lehren, die wir daraus ziehen sollten. In einem sind wir uns sicherlich einig: Dieser Einsatz hat nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland tiefgreifend verändert. Es ist der teuerste und aufwendigste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr.
Wir schulden die Aufarbeitung nicht nur denjenigen, die in Zivil oder in Uniform in Afghanistan gearbeitet und geholfen haben, den Tausenden und Abertausenden von Menschen, die dort unter schwierigsten Bedingungen gearbeitet haben und ihren Familien sehr viel zugemutet haben, die vor allem aber auch sehr viele Opfer gebracht haben, manche von ihnen sogar ihr Leben gegeben haben.
Die kritische außenpolitische Debatte in Deutschland muss die Gesellschaft aber aushalten, gerade auch, wenn von vornherein gesagt wird, dass Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernehmen will. Denn wenn wir daraus nichts lernen, dann werden wir auch nichts richtig machen.
Die Debatte, aber vor allem auch die Große Anfrage und die Antworten der Bundesregierung darauf zeigen, woran die Debatte bisher auch ein wenig krankt. Die Linke stellt eine Anfrage, für die ich allein schon deswegen sehr dankbar bin, weil wir heute darüber diskutieren können. Aber sie verfolgt damit sehr klar den fast rituellen Vorsatz, festzustellen, dass in Afghanistan alles schlechter ist als vor dem Einsatz. Auf der anderen Seite antwortet die Bundesregierung, wiederum rituell, so, als wäre alles ein riesengroßer Erfolg. Beides wird dem Ernst der Lage vor Ort leider nicht gerecht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man kann ewig weiter darüber streiten: Sind 555 Schulen genug? Sind 855 Kilometer Straßen genug? Ist es ausreichend, dass Afghanistan jetzt auf Platz 175 des Entwicklungsindexes der Vereinten Nationen von 187 Staaten ist? Das sind aber genau die Diskussionen, die uns nicht weiterbringen, die uns vielmehr dazu verleiten, dass wir an den zentralen Lehren vorbeireden.
Ich will zwei dieser Lehren, die aus meiner Sicht sehr deutlich sind, benennen. Die erste Lehre ist: Wir haben in Afghanistan von vornherein auf lokale Machthaber und ihre Milizen vertraut, anstatt dass wir Governance aufgebaut haben. Wir haben viel zu spät mit dem Staatsaufbau angefangen und viel zu oft die Geister gerufen, die wir später nicht mehr in die Flasche zurückstecken konnten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist nicht nur für Afghanistan relevant. Das ist auch deswegen relevant, weil exakt dasselbe uns weiterhin droht. Das ist exakt dieselbe Lehre, die man von Mali bis zum Irak ziehen kann und sollte, damit man es beim nächsten Mal anders macht.
In der Anfrage beantwortet die Bundesregierung die Fragen zur Rolle der Milizen zum Beispiel mit den Worten, es gebe keine belastbaren Aussagen über deren Gesamtumfang. Es heißt:
Das Letzte ist formal sicher richtig. Ich glaube aber nicht, dass das, wenn man den Ernst des Problems kennt, eine seriöse Auseinandersetzung mit der Situation und der Problematik der Milizen in Afghanistan ist.
Die zweite Lehre ist, dass es eine unglaublich große Schieflage zwischen militärischem und zivilem Engagement gibt. Es wurden 9,8 Milliarden Euro für Militär ausgegeben, 3,4 Milliarden Euro für zivile Projekte. Wir haben nicht wegen zu geringer Ausgaben für das Militär vieles nicht erreicht, sondern wir haben vor allem wegen zu wenig zivilen Engagements dort vieles nicht erreicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wenn man bedenkt, dass Deutschland einmal Führungsnation beim Polizeiaufbau war – ich bin für jeden einzelnen Polizisten und für jede einzelne Polizistin, der bzw. die freiwillig vor Ort war, wirklich dankbar; sie haben eine wirklich hervorragende Arbeit geleistet –, und wenn man bedenkt, dass wir heute nur 14 einzelne Polizisten im Norden von Afghanistan im Einsatz haben, dann sieht man, wie wenig ernst das leider genommen worden ist.
Wenn man bedenkt, dass die Taliban auch von der Bundesregierung nicht zu Treffen eingeladen worden sind, um zu politischen Lösungsansätzen beizutragen, dann sieht man, woran es mangelt. Um noch ein klassisches ziviles Beispiel zu nennen: Wir reden über ein Land, das traditionell in erster Linie von der Agrarwirtschaft lebt. Es ist einfach viel zu wenig für die ökonomische Entwicklung in der Landwirtschaft getan worden. Es gab immer Führungsnationen für den Aufbau der Polizei oder für den militärischen Aufbau, aber es gab nie eine klare Verantwortung für die Entwicklung der landwirtschaftlichen Strukturen in diesem Land. Das war ein riesengroßer Fehler.
Es ist klar, dass man mehr Zeit braucht und wir mehr politische Geduld brauchen, um die Situation in Afghanistan zu verbessern. Aber es reicht nicht, einfach nur Demut vorzutäuschen, sondern man muss wirklich ernsthaft lernen. Wenn man sich die Lustlosigkeit der Bundesregierung, die sich in den Antworten widerspiegelt, anschaut, dann stellt man einfach fest, dass keine große Bereitschaft vorhanden ist.
Wenn auf die Frage der Linken, wie stark denn die Aufständischen im Norden seien, die Antwort gegeben wird, es lägen darüber keine belastbaren Angaben vor, dann kann ich nur hoffen, dass das nicht richtig ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wenn auf die Frage nach der Entwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen ganz viele Projekte aufgezählt werden, aber nicht einmal erklärt wird, ob diese denn greifen und was diese wirklich für die Erwerbsquote der Frauen in Afghanistan bedeuten, dann hat das mit mehr Verantwortung nichts zu tun. Man will nicht eingestehen, dass man möglicherweise Fehler gemacht hat. Da kann ich nur sagen: Schauen Sie sich die Amerikaner an, schauen Sie sich die Holländer an! Die Art und Weise, wie sie gerade im zivilen Bereich die Evaluation durchführen, ist vorbildlich. Dagegen sind wir ganz schlecht.
Unter dem Strich würde ich sagen: Die Linke hat am Anfang der Großen Anfrage Kriterien für die Bewertung genannt. Das sind politische Kriterien, die ihre Vorstellung der Dinge widerspiegeln. Ich teile die Haltung der Linken nicht. Ich komme nicht zu dem Ergebnis, dass alles schlecht ist. Man muss sagen, dass es einen Fortschritt gibt, allein deshalb, weil deutlich mehr Menschen in Afghanistan besser leben und unter friedlicheren Bedingungen leben können, als es vor dem Einsatz der Fall war. Aber gleichzeitig muss man auch sagen: Für all die Opfer, die gebracht worden sind, für all das, was aufgewendet worden ist, ist das, was erreicht worden ist, einfach zu wenig.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Als nächster Redner hat Dr. Hans-Peter Bartels von der SPD-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4963880 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 100 |
Tagesordnungspunkt | Bilanz des Krieges in Afghanistan |