23.04.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 100 / Tagesordnungspunkt 10

Edelgard Bulmahn - Aufnahme syrischer und irakischer Flüchtlinge

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich am 17. Februar dieses Jahres zusammen mit meinen Kollegen Jens Zimmermann und Thomas Hitschler eine kleine Zeltsiedlung im Libanon nahe der syrischen Grenze betrat, war das Erste, was wir sahen, Kinder, viele kleine Kinder, die dort barfuß durch den Schnee stapften. Nein, es waren keine 20 Grad und Sonne, es hatte geschneit, und die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt. In vielen Zelten hatte es durchgeregnet, sodass zu der bitteren Kälte auch noch Feuchtigkeit kam, die es mir unmöglich erscheinen ließ, dass man dort wirklich leben konnte.

Den Flüchtlingen aus Syrien fehlt es am Nötigsten. Das wissen wir alle. Vier von fünf Syrern leben inzwischen in Armut. Aber was heißt das eigentlich, wenn es am Nötigsten fehlt? Wir hatten die Möglichkeit, mit zwei Familien dort darüber zu sprechen. Sie haben uns deutlich gemacht, was es eigentlich bedeutet, jeden Tag Hunger zu haben und das wenige Essen, das man bekommt, mit der ganzen Familie teilen zu müssen, was es bedeutet, den ganzen Tag zu frieren und abends eben kein warmes Bett zu haben, sondern nur eine feuchte Decke, die für die ganze Familie reichen muss.

Bei all diesen Dingen, die fehlen oder von denen es zu wenig gibt, obwohl sie eigentlich dieses Nötigste, von dem wir so oft sprechen, darstellen, gibt es dennoch etwas, das schlimmer als Hunger, Durst und Kälte zusammen ist. Das ist die fehlende Hoffnung auf eine Perspektive, die Menschen oft auch Unerträgliches ertragen lässt. Für die syrischen Flüchtlinge gibt es diese Perspektive nicht. Die Sorge, dass dort eine verlorene Generation heranwächst, treibt, so glaube ich, uns alle hier an.

Lag die Alphabetisierungsquote in Syrien vor Beginn der Krise noch bei 95 Prozent, so ist die Einschulungsquote heute eine der weltweit niedrigsten. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, was das für die Zukunft in Syrien bedeutet. Deshalb ist es nicht nur menschlich geboten, sondern es ist auch politisch vernünftig, dass wir uns für die Menschen, die vor Gewalt und Elend fliehen, engagieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist richtig: Deutschland hat sich mehr engagiert als die meisten anderen Länder. Frau Lindholz hat das Kontingent von 31 000 Personen angesprochen. Über 100 000 Menschen aus Syrien sind inzwischen insgesamt zu uns gekommen. Wir haben auch finanzielle Unterstützung für die Hilfe vor Ort geleistet. 850 Millionen Euro wurden seit 2012 bereitgestellt. Auf der Flüchtlingskonferenz im vergangenen Oktober haben Frank- Walter Steinmeier und Entwicklungsminister Müller noch einmal 500 Millionen Euro bis 2017 zugesagt. Von dieser Hilfe wurde bereits die Hälfte umgesetzt. Auf der Geberkonferenz Ende März dieses Jahres wurden erneut 255 Millionen Euro versprochen.

Diese humanitäre Hilfe ist richtig. Ich erwarte nicht, dass sie in Ihrem Antrag eine besonders herausgehobene Würdigung erfährt; denn das ist selbstverständlich. Ich finde aber durchaus, dass es notwendig wäre, in dem Antrag die Hilfe anzuerkennen, und zwar nicht als Selbstzweck, sondern um anzuerkennen, was viele Hundert freiwillige Helfer jeden Tag vor Ort leisten, was Kommunen und Länder jeden Tag vor Ort leisten, um Integration möglich zu machen. Ich finde, das deutsche und kommunale Engagement hätte durchaus eine Anerkennung in diesem Antrag erfahren können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich bin dennoch dankbar für beide Anträge, weil ich die Meinung teile, dass es das noch nicht gewesen sein kann; denn der Krieg in Syrien ist nicht zu Ende. Die Erfolge im Vorgehen gegen den „Islamischen Staat“ sind zwar da, aber es fliehen weiterhin Menschen vor dessen Gräueltaten. Deshalb wäre es falsch, sich jetzt zurückzulehnen, sich auf die Schulter zu klopfen, sich mit dem Getanen zufriedenzugeben und mit dem Finger auf die anderen zu zeigen und zu rufen: Jetzt seid ihr aber dran.

Es stimmt, dass es eine gesamteuropäische Verantwortung gibt. Ich teile auch Ihre Auffassung, dass es gut ist, dass es Teil des Zehn-Punkte-Plans der Europäischen Union ist, ein Kontingent von 5 000 Menschen aufzunehmen. Aber es muss auch mehr legale Wege der Einwanderung geben. Die Aufnahme eines europäischen Kontingents wäre ein wichtiger und richtiger Schritt.

(Beifall bei der SPD)

Was ich aber nicht teile und was ich wirklich kritisch sehe, das ist die Aussage unseres Innenministers, die Aufnahme eines weiteren deutschen Kontingentes an das Zustandekommen dieses europäischen Kontingentes zu knüpfen; denn die Diskussion um die Aufnahme eines europäischen Kontingentes gab es auch vorher schon. Wir alle wissen: Da ist lange Zeit nichts passiert. Das liegt an der mangelnden Bereitschaft vieler Mitgliedstaaten. Es ist richtig, dass das nicht sein kann. Deshalb müssen wir da auch weiterhin Druck machen. Meine Meinung ist aber, dass diese Tatsache uns nicht von der Verantwortung entbindet, selbst tätig zu werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern mag eine richtige politische Kategorie sein. Für mich ist er aber nicht die maßgebliche politische Kategorie; denn messen lassen müssen wir uns an unseren eigenen Werten und an unserer eigenen Verfassung. Ich bin der Meinung, dass es nicht damit getan sein kann, einmal zu helfen, dann die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, was andere tun. Denn die Menschen kommen sowieso, weil sie keine andere Wahl haben. Deshalb müssen wir auch so ehrlich sein und da, wo es möglich ist, Möglichkeiten der legalen Einwanderung schaffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtlingspolitik funktioniert aber nur dann, wenn sie eben nicht nur von einem Ende her gedacht ist. Eine erfolgreiche Flüchtlingspolitik zeichnet sich dadurch aus, dass man die Menschen, die zu uns kommen und Schutz vor Vertreibung und Gewalt suchen, aufnimmt. Sie hat aber auch die andere Seite im Blick, die deutlich macht, dass es eben nicht reicht, Flüchtlinge hierherzubringen, sondern dass wir sie auch menschenwürdig unterbringen müssen und ihnen vor Ort Perspektiven aufzeigen müssen. An dieser Stelle sind mir Ihre Anträge, ehrlich gesagt, zu kurz gedacht. Vor Ort müssen nämlich auch die Möglichkeiten geschaffen werden, und die Kommunen dürfen nicht alleingelassen werden. Deshalb bin ich sehr froh über die klaren Worte von Sigmar Gabriel und Thomas Oppermann, wenn es um die Übernahme von Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge in den Kommunen geht.

(Beifall bei der SPD)

Es ist richtig, dass nicht die Kommunen die Verantwortung für die Krisen und Kriege in dieser Welt haben; die Kommunen sind aber von den Folgen direkt betroffen. Wenn vor Ort entschieden werden muss, ob entweder ein neues Flüchtlingsheim gebaut wird oder eine Schule saniert wird, dann ist gesellschaftlicher Friede ganz konkret in Gefahr. Ich finde, es ist auch unsere Aufgabe als Politiker, dafür Verantwortung zu übernehmen.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb kann eine größere finanzielle Unterstützung der Kommunen an dieser Stelle – das sage ich auch ganz deutlich Richtung Koalitionspartner – die einzig richtige Antwort auf die steigenden Flüchtlingszahlen sein.

Ich bin froh und dankbar, dass ich in ganz vielen Städten und Gemeinden viele Menschen erlebe, die sich gerade freiwillig melden und sagen: „Wir wollen helfen“, die da helfen, wo Hilfe nötig ist, egal ob bei der Hausaufgabenbetreuung, beim Erlernen der Sprache oder vielleicht bei der Durchführung eines gemeinsamen Kochabends. Sie bringen damit ein Stück Menschlichkeit in eine Umgebung, die von vielen schweren Schicksalen und traurigen Lebensgeschichten geprägt ist. Danke ihnen allen für ihr Engagement, das in einer Zeit, in der mehr Menschen denn je weltweit auf der Flucht sind, von unschätzbarem Wert ist, wie ich finde.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtlingspolitik hat viele Facetten. Sie wird uns nur dann gelingen, wenn wir alle diese Facetten zusammendenken. Dazu müssen wir zum einen die Situation in den Herkunftsländern im Blick haben. Wir müssen uns auch die Lage in den angrenzenden Staaten anschauen, die mehr Flüchtlinge aufnehmen als wir alle zusammen. Wir müssen eben auch die Lage der Kommunen vor Ort im Blick haben. Nur wenn wir diese Aspekte gleichrangig betrachten, werden wir den Herausforderungen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass weltweit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht sind, auch so begegnen können, dass wir Menschen Schutz und Perspektive geben können, die bei uns eine Zuflucht suchen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Luise Amtsberg von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4964160
Wahlperiode 18
Sitzung 100
Tagesordnungspunkt Aufnahme syrischer und irakischer Flüchtlinge
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta