Christoph BergnerCDU/CSU - Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste! Heute vor 100 Jahren hat auf Befehl der jungtürkischen Regierung eine Verhaftung der politischen und kulturellen Elite der Armenier in Istanbul stattgefunden. Sie sind verschleppt und ermordet worden. Dies war der Auftakt zu einer umfassenden Verschleppung und planmäßigen Vernichtung der armenischen Untertanen des Osmanischen Reiches. Mit dieser Debatte wollen wir uns in das Gedenken an diese schrecklichen Ereignisse einreihen. Ich möchte Sie einladen, der Opfer und der Verwüstungen dieses Geschehens zu gedenken, zu gedenken der Hunderttausenden Armenier, eingeschlossen zahlreiche aramäische, chaldäische und assyrische Christen, die brutal vertrieben, furchtbar misshandelt und mit planvoller Konsequenz und oft hemmungsloser Grausamkeit getötet wurden. Ich möchte Sie einladen, zu gedenken der jahrhundertealten armenischen Kultur Anatoliens, die infolge dieser Ereignisse weitgehend vernichtet wurde, einer Kultur, die sich in langer Koexistenz mit anderen Kulturen der Region entwickelt und entfaltet hat und deren Verlust für uns alle dauerhaft schmerzhaft bleibt.
Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben eine besondere historisch-moralische Verpflichtung, uns an dem weltweiten Gedenken anlässlich des 100. Jahrestages dieser Ereignisse zu beteiligen und uns zu deutschen Fehlern und deutscher Schuld zu bekennen. Neben dem Osmanischen Reich war das Deutsche Kaiserreich der am tiefsten involvierte Staat. Aus Rücksicht auf seine militärischen Ziele im Ersten Weltkrieg machte er sich unterlassener Hilfeleistung gegenüber den der Vernichtung ausgesetzten Armeniern schuldig. Hierfür bitten wir um Entschuldigung. Wir stehen in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches, und wir haben deshalb hier mit besonderer Ernsthaftigkeit die Debatten zu führen, die seinerzeit den Mitgliedern des Reichstages wegen Zensurmaßnahmen der Reichsregierung nicht möglich waren.
Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit einer einstimmig verabschiedeten Resolution endlich eine 90 Jahre dauernde Sprachlosigkeit der deutschen Politik zum Schicksal der osmanischen Armenier beendet. Ich erlebte damals die Erarbeitung und Einbringung dieses Antrages, der mit wissenschaftlicher Unterstützung des leider viel zu früh verstorbenen Hermann Goltz entstand. Ich erlebte damals einen vielfältigen türkischen Widerspruch zu dieser Initiative – von der türkischen Botschaft über Abgeordnete der AKP, aus dem türkischen Parlament bis hin zu CDU-Mitgliedern türkischer Herkunft. Ich erinnere mich besonders an die Worte eines CDU- Ortsvorsitzenden aus Berlin – ich führe ihn exemplarisch an –, der mir sagte: Ich werde meinem Sohn nie sagen, eine türkische Regierung habe Armenier vertrieben und getötet; das ist für mich eine Frage der Ehre. – Meine Damen und Herren, spätestens da habe ich begriffen, wie schwierig das Selbstverständnis ist, mit dem wir hier zu ringen haben. Das ist ein Ehrbegriff, der sich an dem Gründungsmythos des türkischen Staates orientiert. Damit haben wir uns auseinanderzusetzen. Ich möchte dazu einladen, dass wir dieser Auseinandersetzung nicht ausweichen
(Beifall im ganzen Hause)
und die Forderung ernst nehmen, die wir in unserem damaligen Antrag beschlossen haben: Deutschland muss zur Versöhnung von Armeniern und Türken beitragen. – Das ist eine Forderung, die nicht an Aktualität verloren hat.
Der Versöhnungsauftrag, den wir uns gegeben haben, bezieht sich nicht nur, so wichtig das ist – Kollege Erler ist darauf eingegangen –, auf das Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien. Er bezieht sich auch und insbesondere auf die Diaspora, auf die Menschen armenischer und türkischer Herkunft in unserem Land. Er bezieht sich beispielsweise auf die Kinder türkischer und armenischer Familien; diese Kinder haben einen Anspruch darauf, in unseren Schulen ein Geschichtsbild vermittelt zu bekommen, das sich von den Ergebnissen der historischen Wissenschaft und dem Geiste der Aufklärung ableitet und durch seine Objektivität für Ausgleich sorgt.
Der deutsche Staat muss ein Interesse daran haben, dass Konflikte, die Zuwanderer als Teil ihrer Identität in unsere Gesellschaft mitbringen, nicht durch beschwichtigende Zurückhaltung und Indifferenz deutscher Politik auf Dauer unbewältigt bleiben.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Mir liegt ein Aufruf verschiedener türkischer Verbände zu einer Demonstration am morgigen Tag am Brandenburger Tor vor, in dessen Überschrift es heißt: „Der Völkermordlüge ein Ende! Nimm Deine Flagge und komm!“ Es ist das Recht dieser Verbände, für ihre Auffassung zu demonstrieren. Aber ist es nicht unsere Pflicht als frei gewählte Vertreter des deutschen Volkes, klar zu bekennen, welche Deutung der Ereignisse vor 100 Jahren uns angemessen und richtig erscheint?
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich habe Zweifel, dass wir, wenn wir in dieser Diskussion überzeugend auftreten und klar Stellung beziehen wollen, auf den Begriff „Völkermord“ verzichten können.
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Wir haben in der Koalition um die Angemessenheit dieses Begriffes intensiv gerungen. Ich verstehe und respektiere das Anliegen derer, die um der Verständigung und um des Zieles der Versöhnung willen jede polarisierende Wortwahl vermeiden wollen. Aber die Berechtigung dieses Anliegens endet dort, wo semantische Zurückhaltung zur faktischen Verharmlosung und Relativierung der Tragödie führt, die im Mittelpunkt unseres Gedenkens steht.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es ist richtig: Der Straftatbestand des Völkermordes, geschweige denn der Begriff, existierte vor 100 Jahren noch nicht. Seine Formulierung und Definition ist erst im Zuge der Erarbeitung der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Genoziden gefunden worden. Das war 1948, 33 Jahre nach der Vernichtung der osmanischen Armenier. Aber ist es ein Grund, die Verwendung des Begriffes „Völkermord“ für unangebracht zu halten? Ist es nicht normaler Ausdruck einer lebendigen Sprachentwicklung, wenn sich zur Beschreibung alter Sachverhalte auch jüngerer Begriffe bedient wird? Dies gilt umso mehr, als die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren nachträglich zum zentralen Bezugspunkt der Erarbeitung der Völkermordkonvention wurden. Für Raphael Lemkin, den Schöpfer des Begriffes „Genozid“ und Initiator der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen, schien dies jedenfalls wichtig zu sein; denn er stellt rückblickend fest – ich zitiere Lemkin –:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vor zehn Jahren die Sprachlosigkeit angesichts des Schicksals der osmanischen Armenier überwinden können. Lassen Sie uns die Beratung dieser Anträge im Ausschuss zum Anlass nehmen, unsere Sprachfähigkeit weiter zu üben und fortzuentwickeln, und lassen Sie uns unter dem Auftrag handeln, den wir uns vor zehn Jahren gegeben haben: Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Armeniern und Türken beitragen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Nächster Redner ist der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4966357 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 101 |
Tagesordnungspunkt | Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16 |