Cem ÖzdemirDIE GRÜNEN - Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich möchte mich zunächst bei unserem Bundespräsidenten Gauck für seine klaren Worte gestern Abend aus Anlass des Gedenkgottesdienstes zum 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern, Aramäern und Assyrern bedanken. Ich danke unserem Bundespräsidenten insbesondere für diese gewisse Portion Unbeirrbarkeit, die ihn auszeichnet, für die wir ihn schätzen und lieben. Ich füge nach der heutigen Rede des Bundestagspräsidenten hinzu: Das gilt natürlich in derselben Weise auch für Sie, Herr Bundestagspräsident.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Leider kann ich die Vertreter der Bundesregierung in dieses Lob nicht mit einschließen. Denn wäre es nach Ihnen gegangen, dann würden wir bis heute das türkische Narrativ wiederholen, dass es den Völkermord nicht gab. Ich verstehe das nicht; denn ich unterstelle Ihnen gute Absichten. Auch Sie wollen zur Versöhnung beitragen. Aber diese Haltung trägt nicht zur Versöhnung bei, sondern stützt diejenigen, die den Völkermord leugnen, und diejenigen, die Unterstützung brauchen, die Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, werden im Stich gelassen. Da kenne ich mich, glaube ich, ganz gut aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich war im März zusammen mit der Kollegin Ekin Deligöz in Armenien. Ich habe mit Vertretern der Regierung, der Opposition, der Zivilgesellschaft, mit vielen gesprochen. Niemand dort bemerkt, dass wir die Mittel für die Versöhnungsarbeit im Auswärtigen Amt deutlich erhöht haben. Auch unsere Diplomaten beklagen sich darüber, dass sie diese Mittel gar nicht einsetzen können; denn an Veranstaltungen, wo der Begriff Völkermord auftaucht, dürfen sie nicht teilnehmen. Das versteht niemand. Ich hoffe, dass sich das nach dem heutigen Tage ändern wird.
Ich habe mich, als ich dort im Andenken an die Opfer des Völkermordes den Kranz niedergelegt habe, gefragt: In welcher Eigenschaft mache ich das? Natürlich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages, als Vorsitzender einer deutschen Partei. Aber wenn man im Ausland unterwegs ist, zumal in Armenien, und Cem Özdemir heißt, dann reist die Herkunft logischerweise mit. In meinem Fall zeigt es die ganze Zerrissenheit der Türkei. Denn ein Teil meiner Vorfahren kommt aus dem Kaukasus; sie sind tscherkessischer Herkunft. Die Tscherkessen haben genauso wie die Muslime auf dem Balkan selber schrecklichstes Leid erfahren, sind vertrieben worden, sind Opfer von Mord und Vernichtung geworden. Und dieselben Tscherkessen haben sich in der Türkei zum Teil am Völkermord an den Armeniern beteiligt.
Ich sage dies auch, weil es endlich Zeit ist, sich an die Opfer aller Völkermorde, aller Vernichtungen zu erinnern. Wir sind es den Opfern und ihren Hinterbliebenen schuldig, dass niemand ausgelassen wird und ab heute alles beim Namen genannt wird.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich habe gelesen, dass es auch darum geht, dass wir den Versöhnungsprozess nicht unterbrechen. Ich kann Sie beruhigen. Ich war gestern in Istanbul. Ich habe an einer türkisch-armenischen Veranstaltung zum Andenken an die Opfer vom 24. April 1915 teilgenommen. An dieser Veranstaltung haben Vertreter der Zivilgesellschaft, auch türkische Abgeordnete und andere Personen teilgenommen. Alle waren sich einig in der Frage, die sie an mich gerichtet haben: Was wird der Deutsche Bundestag 100 Jahre nach dem Völkermord in dieser Frage machen? Ich habe dort Folgendes gesagt: Der Deutsche Bundestag wird mit all seinen Rednern, mit all seinen Fraktionen 100 Jahre danach aufhören, so zu tun, als ob wir nichts mit dem Völkermord zu tun gehabt hätten. Er wird ihn anerkennen, und er wird heute eine neue Seite aufschlagen. – Und wir sind heute Zeugen davon, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich habe noch etwas gesagt: Kein deutsches Außenministerium, kein deutsches Auswärtiges Amt wird mehr Formulierungen verwenden wie – ich zitiere – „Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/1916“, um die damals unterlassene Hilfeleistung und Mitverantwortung zu verleugnen. Auch das wird mit dem heutigen Tag der Vergangenheit angehören, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es ist aber auch für die Türkei selber wichtig, dass die Ereignisse von 1915 aufgearbeitet werden. Denn hätte die Türkei den Völkermord aufgearbeitet, dann hätte 1938 nicht das Massaker an den Aleviten in Dersim stattgefunden,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
dann hätten die Griechen am 6./7. September 1955 kein Pogrom erleben müssen, dann hätte vielleicht der schmutzige Krieg mit den Kurden nicht stattgefunden. Ich bin mir auch sicher: Hätte man sich nicht am Besitz der Armenier bereichert, wäre das Verständnis für die Normen der Rechtsstaatlichkeit stärker ausgeprägt worden.
Wie sagte mein ermordeter türkisch-armenischer Freund Hrant Dink: Wären die Armenier heute noch am Leben, die osttürkische Stadt Van wäre heute so etwas wie das Paris des Ostens. – Es ist wichtig, zu verstehen, dass damals Geistliche, Ärzte, Verleger, Journalisten, Anwälte, Lehrer wie auch Politiker umgebracht worden sind. Manche haben sich für sie eingesetzt, beispielsweise der damalige US-Botschafter Henry Morgenthau, der immerhin durchsetzen konnte, dass der berühmte osmanische – nicht nur armenische, sondern auch osmanische – Komponist Komitas gerettet wurde. Er hat nach seiner Rettung nie wieder eine Note angerührt, nie wieder ein Wort geäußert angesichts des Leids, das er erfahren hat.
Ich wünsche mir künftige türkische Schulbücher, in denen an das Leid dieser Menschen erinnert wird. Ich wünsche mir in der Türkei Schulbücher, in denen die Kinder etwas darüber erfahren, was dem Osmanischen Reich und der Türkei verlorengegangen ist. Ich wünsche mir, dass Kinder in der Türkei künftig lernen: Nicht Talaat Pascha und Enver Pascha sind die Helden für die Türken von heute, sondern es war der Gouverneur von Kütahya, der gesagt hat: In meinem Verwaltungsbezirk wird der Befehl aus Istanbul nicht angewendet. Kein einziger Armenier wird angerührt. – Das sollten die Vorbilder sein, über die unsere Kinder etwas lernen. Dann lernen sie nämlich auch, dass sich so etwas nie wiederholen darf.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Um auch das klar zu sagen: Es geht hier nicht um Überheblichkeit. Es geht hier nicht darum, dass wir mit erhobenem Zeigefinger sprechen, sondern wir sprechen als Freunde zu Freunden. Wir wollen als Freunde der Türkei sagen: Es liegt auch im türkischen Interesse, dass sich die Grenze zu Armenien öffnet und sich eines Tages die Grenze zwischen der Türkei und Armenien so darstellt wie heute Gott sei Dank die Grenze zwischen Deutschland und Polen und zwischen Deutschland und Frankreich. Das muss geschaffen werden, das kann geschaffen werden, und dazu müssen wir alle unseren Beitrag leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich will ein Weiteres sagen: Das zweifelhafte Privileg des ersten Völkermordes in diesem Jahrhundert haben leider wir Deutsche. Denn das, was damals im sogenannten Deutsch-Südwestafrika, in unserer damaligen Kolonie, mit den Herero und Nama passierte, erfüllt ebenfalls den Tatbestand eines Völkermordes. Auch deshalb eignen wir uns nicht als Lehrer, sondern höchstens als Ratgeber,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
als diejenigen, die sagen können: Wer sich mit den dunklen Flecken der eigenen Geschichte beschäftigt, der wird daran nicht kleiner, sondern – im Gegenteil – wächst daran.
Es ist darum höchste Zeit, dass wir den Opfern endlich unser Mitgefühl aussprechen und uns entschuldigen: bei den Armeniern, bei den Aramäern, bei all denen, die durch das Osmanische Reich damals Leid erfahren haben. Aber auch wir hatten eben ein Deutsches Kaiserreich, das nichts dafür getan hat, dass diese Menschen geschützt werden. Ich hoffe, dass künftige Generationen in Armenien und in der Türkei wieder die Chance bekommen, als Nachbarn, als Freunde, als Brüder und Schwestern aufzuwachsen. Heute leisten wir einen Beitrag dazu.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Das Wort erhält nun der Kollege Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4966363 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 101 |
Tagesordnungspunkt | Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16 |