Frank SchwabeSPD - Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich habe gestern in der Süddeutschen Zeitung einen Hinweis auf ein faszinierendes Internetprojekt gelesen. Nicht mit dem Ziel der Wiederaneignung, sondern als Projekt der Aufklärung und Erinnerung werden dort das Leben und die Geschichte, die Kultur, die religiösen Riten, die familiären Gebräuche der 2 Millionen Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt. Man mag gar nicht aufhören, darin zu schmökern, weiterzuklicken und sich das anzusehen, weil es so faszinierend ist. Man bekommt in etwa ein Bild und einen Eindruck davon, wie das armenische Leben in der Türkei heute aussehen könnte, wenn es den Völkermord nicht gegeben hätte.
Wir verneigen uns heute vor den armenischen Opfern des Völkermords und gedenken auch der Massaker an und der Vertreibung von Assyrern, Aramäern, osmanischen Griechen und anderen. Warum tun wir dies? Wir können niemandem das Leben zurückgeben; aber wir können versuchen, ein Stück der Würde zurückzugeben; vielleicht ist auch das eine Chance für armenische Familien und das armenische Volk, das Erlittene zu verarbeiten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Und wir warnen – deshalb sind wir es uns schuldig, die Geschehnisse so klar zu benennen –: Niemand auf der Welt, der Auslöschung oder Ausradieren von Bevölkerungsgruppen planen könnte – ich fürchte, es gibt solche Leute auch heutzutage auf der Welt –, niemand von denen wird, ohne Rechenschaft dafür ablegen zu müssen, davonkommen; das ist auch die Botschaft des heutigen Tages.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin Vorsitzender eines Deutsch-Griechisch-Türkischen Städtepartnerschaftsvereins, eines Dreierbündnisses, das dem Gedanken des Verständnisses, der Verständigung und der Aussöhnung verpflichtet ist. Nicht nur deshalb liegt mir die Freundschaft mit der Türkei und den Türkinnen und Türken besonders am Herzen. Ich versuche die tiefen Gefühle und die Verletzungen der Armenier zu verstehen; ich versuche aber auch zu verstehen, warum es eigentlich in der Türkei so schwierig ist und ihr so schwerfällt, das Ganze zu verarbeiten und auch als Völkermord zu bezeichnen.
Ich habe eine Zuschrift bekommen von einem türkischstämmigen Mitbürger. Er hat geschrieben: Ich bin mir sicher, dass meine Vorfahren so nicht gehandelt haben. – Gestern Abend bin ich mit einem Fahrer unterwegs gewesen, der mir gesagt hat: Wenn Sie da morgen sprechen, denken Sie bitte auch an die Türken in Deutschland, die möglicherweise nicht verstehen werden, wie Sie die Dinge diskutieren und wie Sie sie benennen.
Ich glaube, wir alle versuchen, diese Gefühle zu verstehen, wir versuchen, zu verstehen, wie sich Menschen fühlen, und wir versuchen, deutlich zu machen: Es geht nicht um persönliche Verantwortung – wie könnte es um persönliche Verantwortung gehen bei einem Völkermord, der 100 Jahre zurückliegt! –, aber es geht um eine Gesamtverantwortung der Türkei, und es geht um eine Verantwortung den Armeniern gegenüber. Deswegen ist es richtig, dass wir heute so breit der Aufforderung des Europaparlaments nachkommen und den Völkermord auch Völkermord nennen, und es ist gut, dass wir das in so großer Übereinstimmung der Institutionen nach einer durchaus intensiven Debatte in den letzten Wochen tun.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Wir kommen unserer Verantwortung auch nach, weil es – auch das ist angesprochen worden – ein ganz dunkles Kapitel deutscher Geschichte gibt. Deutschland trägt Mitverantwortung, mindestens durch Unterlassung, bis an die Spitze der Reichsregierung. Und Deutschland war auch eingebunden in die Kommandostrukturen des Osmanischen Reiches. Deswegen ist es gut – wir müssen dafür danken –, dass es mittlerweile Publikationen zu diesem Thema gibt – man kann das nachlesen – und dass dazu auch weiter geforscht wird.
Wir benennen heute die Verbrechen der Vergangenheit, um in die Zukunft schauen zu können. Was mir dabei Hoffnung macht, ist, dass es in der Tat – auch das ist angesprochen worden – zarte Pflanzen von Verständigungsprozessen gibt. So hatten sich – auch das gehört zur Wahrheit – vor 100 Jahren auch Kurden an der Vertreibung von und an Massakern an Armeniern beteiligt. Mittlerweile, seit 2011, ist die armenische St.-Giragos- Kathedrale in Diyarbakir wieder renoviert und wurde auch wieder geweiht, mit Unterstützung der Kurden. Ich finde, das ist ein gutes Signal, wie Verständigung aussehen kann.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme gerade von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg. Dort gibt es einen Plenarsaal wie hier, und vor dem Plenarsaal sind zwei Ausstellungen zu betrachten, ungefähr 20 Meter voneinander entfernt. Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass es genau zwei Ausstellungen gibt. Die eine wird von Armenien ausgerichtet zum Thema „100 Jahre Völkermord“; Herr Jung nickt, wir waren gemeinsam da. Die von der Türkei ausgerichtete Ausstellung heißt: Safe Harbour Turkey, also Sicherer Hafen Türkei; dabei geht es darum, was die Türkei geleistet hat während des Holocaust, aber auch aktuell in der Syrien-Krise – es ist angesprochen worden –, um Menschen zu helfen, um Menschen bei sich zu beherbergen. Das ist eine wirklich beachtliche Leistung der Türkei.
Ich wünsche mir – das ist, glaube ich, die Hoffnung von uns allen –, dass wir dort in einigen Jahren eine gemeinsame Ausstellung betrachten können, in der die beiden Länder sich gemeinsam der Verantwortung stellen, sich gemeinsam mit dieser Völkermordsituation auseinandersetzen und daraus Kraft schöpfen für sich selbst, für die Region, für Europa, aber auch für die gesamte Welt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4966364 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 101 |
Tagesordnungspunkt | Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16 |