Dietmar NietanSPD - Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 27. Januar des Jahres 2000 hat hier, an diesem Rednerpult, der große Elie Wiesel zu uns gesprochen. Er hat uns damals, am Holocaust-Gedenktag, eine Mahnung mit auf den Weg gegeben. Er sagte – ich zitiere –:
Heute sind wir hier in diesem Hohen Hause zusammengekommen, um den Opfern des Völkermords an den Armeniern vor 100 Jahren unsere Ehre zu erweisen. Dass nunmehr in den Entschließungsanträgen aller Fraktionen vom Völkermord gesprochen wird, geschieht nicht, um Hass zu schüren oder ein befreundetes Land wie die Türkei belehren oder gar beleidigen zu wollen. Vielmehr wollen wir heute deutlich machen – ganz im Sinne von Elie Wiesels Mahnung –, dass wir uns eben nicht dazu herbeilassen wollen, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln.
Aus diesem Grund, weil wir den unschuldigen Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, haben wir uns dazu entschlossen, die vom damaligen jungtürkischen Regime befohlene systematische Vertreibung und Vernichtung der anatolischen Armenier wie auch die der Aramäer, Assyrer, der chaldäischen Christen und Pontusgriechen als das zu bezeichnen, was diese Verbrechen ohne Zweifel waren: ein Völkermord.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern Abend hat unser Bundespräsident in einer sehr beeindruckenden Rede zu Recht gefordert, dass wir Deutsche uns insgesamt der Aufarbeitung unserer Mitverantwortung oder vielleicht sogar Mitschuld beim Völkermord an den Armeniern stellen müssen. Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, sollten uns deshalb in aller Form gegenüber dem armenischen Volk für die damalige moralische Gleichgültigkeit des Deutschen Reiches entschuldigen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Gott sei Dank sind heute viele Menschen in der Türkei in der Frage des Umgangs mit diesem Völkermord viel weiter als ihre eigene Regierung. Schauen wir uns nur an, welche wirklich guten zivilgesellschaftlichen Initiativen sich in der Türkei in den letzten zehn Jahren gegründet haben, die das Wort „Völkermord“ nicht aussprechen, um zu polarisieren, sondern weil eben die Wahrheit die Grundlage der Versöhnung sein muss. Hinter dieser beispielhaften, mutigen Arbeit der türkischen Zivilgesellschaft sollten wir als Bundestag nicht zurückbleiben.
Was meine ich damit? Ich bin froh, dass die heute vorliegenden Anträge in die Ausschüsse verwiesen werden. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag vorgelegt hätten.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich hoffe sehr, dass in der Ausschussberatung deutlich wird, dass wir die richtige Balance zwischen Eifer und Gleichgültigkeit finden.
(Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD])
Es geht nämlich nicht darum, dass der Antrag der beste ist, in dem das Wort „Völkermord“ am häufigsten auftaucht. Es geht nicht darum, etwas zu unterstellen, weil wir eine andere Meinung haben, wie man das Wort auch im offiziellen diplomatischen Gebaren verwendet. Es geht auch nicht darum, der Bundesregierung zu unterstellen, dass sie bisher nicht alles getan hat, oft auch hinter den Kulissen, damit es zur Versöhnung kommt und damit sich auch die Türkei der Auseinandersetzung mit dem Völkermord stellt. Vielmehr geht es darum, dass wir eine verantwortungsvolle Arbeit leisten, die nur ein Ziel haben kann, nämlich Versöhnung, nicht Rechthaberei. Das geht nur, wenn wir dabei auch die türkischen Freunde mitnehmen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass es selbstverständlich zu begrüßen ist, wenn es jetzt und auch schon im letzten Jahr Aussagen türkischer Regierungsmitglieder gibt bzw. gegeben hat, die den Nachfahren der Opfer ihr Beileid aussprechen. Allerdings werden in diesen Erklärungen die Verbrechen an den Armeniern gleichzeitig weiter relativiert, indem sie als eine Art unvermeidliche, fast schon natürliche Begleiterscheinung des Ersten Weltkriegs dargestellt werden. Wir alle, aber auch die jetzige türkische Regierung wissen, dass die Armenier nicht zufällig irgendwelchen Kriegswirren, sondern einem eiskalt geplanten Verbrechen des damaligen türkischen Staates zum Opfer gefallen sind. Dazu muss sich die Türkei bekennen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Generationen von heranwachsenden Menschen in der Türkei wurde in den Schulbüchern ein Bild der Ereignisse eingepflanzt – so möchte ich es nennen –, mit dem versucht wurde, auch nicht den leisesten Verdacht aufkommen zu lassen, dass sich der türkische Staat an den Armeniern vergangen hat. Deshalb war es so leicht, Emotionen in der Türkei zu schüren, weil man den Menschen erzählt hat: All die, die innerhalb und außerhalb der Türkei von Völkermord sprechen, tun das, weil sie den Ruf unseres Landes beschädigen wollen. – Das ist falsch. Leider ist es genau umgekehrt; denn aus dem hinter diesem Geschichtsbild stehenden Zwang, die wahren Ausmaße der damaligen Verbrechen und ihre Urheber zu verleugnen, weil man glaubt, sonst die nationale Identität zu verlieren, erwächst am Ende nur erneutes Unrecht. Diesen Zyklus kann nur einer durchbrechen, nämlich die türkische Regierung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich deutlich machen, dass ich der festen Überzeugung bin, dass am Ende die Menschen in der Türkei selbst wissen wollen, wie ihre Geschichte war, und dass sie auch zu den dunklen Seiten ihrer Geschichte stehen wollen. Weil das so ist, bin ich fest davon überzeugt, dass es zu einer Versöhnung kommen wird. Immer mehr Menschen in der Türkei fragen nach ihrer Vergangenheit und entdecken dabei zum Beispiel ihre eigene verschüttete armenische Geschichte.
Deshalb kann man sagen: Der 1915 gestartete Versuch, das westarmenische Volk und seine Kultur auszulöschen, ist gescheitert. Er musste scheitern, weil es einen uneinnehmbaren Ort gibt: Er nennt sich Erinnerung. Diesen Ort gibt es nicht nur in den Herzen der Nachfahren der Opfer, sondern auch in den Herzen einer wachsenden Zahl von Menschen, die nicht vergessen und vertuschen wollen. Das Großartige ist, dass die Zahl dieser Menschen wächst – in einem wunderbaren Land, welches wir Türkei nennen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4966427 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 101 |
Tagesordnungspunkt | Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16 |