Bernd FabritiusCDU/CSU - Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geehrte Gäste! Lassen Sie es mich gleich beim Namen nennen: Wir gedenken heute des Völkermordes an den Armeniern, und wir beraten Anträge. Die abscheulichen und brutalen Ereignisse vor nunmehr 100 Jahren im Osmanischen Reich sind von meinen Vorrednern bereits beleuchtet worden. Nicht übersehen dürfen wir hier im Deutschen Bundestag die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das über die Vorgänge bestens informiert war und nichts dagegen unternommen hat.
Daraus erwächst für uns Deutsche heute eine ganz besondere Verantwortung. Diese gebietet uns erstens, das geschehene Grauen niemals zu vergessen, zweitens, die bedrückende, aber unzweifelhafte historische Wahrheit zu fördern, drittens – und aus meiner Sicht am wichtigsten –, die Versöhnung zwischen Armenien und der Türkei voranzubringen.
Grundlage jeder Versöhnung ist eine wahrheitsgetreue, kritische Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Geschichte, eine ungeschönte historische Wahrhaftigkeit. Das wissen gerade auch die deutschen Heimatvertriebenen sehr genau. Dazu gehört auch die zutreffende Einordnung der an den Armeniern verübten Verbrechen. Dabei geht es beileibe nicht um bloße juristische Kategorisierung. Davon zeugt allein schon die intensive Debatte der vergangenen Tage. Es geht um Anerkennung des Leides in seinem vollen Umfang.
Der Vorwurf des Völkermordes wiegt schwer. Die völkerrechtliche Definition wurde heute schon mehrfach zitiert. Diese Definition hat übrigens keinesfalls eine zeitlich einschränkende Komponente, etwa erst ab Inkrafttreten der einschlägigen UN-Konvention im Jahr 1951. Diese regelt nämlich nur die Konsequenzen für einen schrecklichen Sachverhalt, der vor Inkrafttreten dieser Konvention nicht etwa weniger schrecklich gewesen ist. Es kommt auch niemand auf die Idee, andere Völkermorde vor 1951 mit dem gleichen Argument zu beschönigen.
Mit einem solchen Vorwurf geht man nicht leichtfertig um. Wenn wir jedoch unserer Verpflichtung zur Wahrheitsförderung gerecht werden wollen, müssen wir aus meiner Sicht anerkennen: Die Vertreibung und Ermordung der Armenier vor 100 Jahren war Völkermord. Eine solche Feststellung ist schon allein deshalb so wichtig, weil sie die Opfer und deren Nachfahren vor der ständig präsenten Relativierung oder gar Leugnung des Erlittenen befreit und somit angemessenes – auch gemeinsames – Gedenken und Erinnern ohne Rechtfertigungsnot ermöglicht. Nicht nur aus diesem Grund bin ich froh, dass mit dem vorliegenden Koalitionsantrag ein Weg begonnen wurde, sich historischen Tatsachen zu nähern und diese beim Namen zu nennen. Ich verstehe auch den Ansatz hinter der gewählten Formulierung. Die Aufarbeitung des Geschehens und die Versöhnung zwischen Armeniern und Türken – unsere Hauptanliegen – können nicht bei uns in Deutschland erfolgen. Wir können dafür aber Impulse geben.
Ich sage ganz aufrichtig: Eine klare Formulierung halte ich für unerlässlich, und dafür plädiere ich. Ob ein Völkermord als solcher bezeichnet wird oder nicht, macht das Geschehene um nichts besser. Beschönigungen hingegen perpetuieren Unrecht in die Zukunft. Schon deswegen ermuntere ich die Türkei, hier etwas mutiger zu werden. Gleichzeitig liegt mir viel daran, deutlich zu machen, dass sich die Bezeichnung der Verbrechen als Völkermord in keiner Weise gegen die Türkei oder gar ihre Bevölkerung richtet. Es ist kein Angriff auf das Ansehen der modernen Türkei, wenn wir an das Leid der Opfer des Völkermords an den Armeniern erinnern und das auch so nennen. Ganz im Gegenteil: Ein Staat, der auch zu den dunkelsten Seiten der eigenen Geschichte steht, zeigt Stärke und wahre Souveränität.
Gerade wir Deutschen haben unsere Erfahrungen mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte gemacht. Vor Jahrzehnten hätte kaum jemand zu hoffen gewagt, dass Deutschland – nach der Schoah und den Verbrechen der Nazis – im Jahre 2015 nicht nur mit seinen Nachbarstaaten, sondern gerade auch mit Israel in enger Freundschaft verbunden sein würde. Wir haben gelernt, dass ein Prozess der Aufarbeitung auch schmerzhafte Erkenntnisse erfordert. Diese auszuhalten, macht aber stärker. Verzögerung wichtiger Aufklärungsarbeit oder gar Schönfärberei begangener Verbrechen hingegen ist sicher nicht der richtige Weg, um mit der eigenen Vergangenheit umzugehen.
Bedauerlich finde ich, dass in der Türkei diesbezüglich eher das Muster „einen Schritt vor, zwei Schritte zurück“ zu beobachten war. Das den Armeniern zugefügte Leid wird dort inzwischen zwar offener diskutiert; ermutigenden Signalen aus der türkischen Zivilgesellschaft folgen jedoch allzu oft Rückschläge seitens der Regierung. Jenen, die es wagten, die Wahrheit offen auszusprechen – und Orhan Pamuk ist nur ein Beispiel –, wurden Strafen angedroht, und wenn der Papst, das Europäische Parlament oder der Europarat den Völkermord an den Armeniern als solchen benennen, reagiert die türkische Regierung mit wütenden verbalen Ausfällen und mit Drohungen.
Die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wäre jedoch unabdingbare Voraussetzung für einen echten, nachhaltigen Versöhnungsprozess mit den armenischen Nachbarn. Von diesen erwarte ich Offenheit, Versöhnungsbereitschaft und den Verzicht auf verbale Rache. Die türkische Regierung fordere ich auf, sich offen mit der Vergangenheit des Osmanischen Reichs auseinanderzusetzen und eine systematische Aufarbeitung der Ereignisse vor 100 Jahren anzugehen. Das wäre letztlich auch im Interesse der Türkei selbst.
Vielen Dank.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4966433 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 101 |
Tagesordnungspunkt | Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16 |