Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über ein Gesetz, das Schlussfolgerungen für den Verfassungsschutz aus dem NSU-Nazi-Mord-Desaster verheißt. Ich greife daraus jetzt nur einen Aspekt auf: das V-Mann-Unwesen. Ein Vorzug sei – das stellten Sie gerade wieder dar, Herr Bundesinnenminister –, dass die fragwürdige V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden nunmehr besser geregelt werde. Ich zitiere, was Sie kürzlich in einer Befragung der Bundesregierung gesagt haben:
Das klingt gut, ist es aber nicht; denn de facto bleibt alles beim Alten.
Dazu eine exemplarische Geschichte aus dem NSU- Nazi-Mord-Desaster. Carsten S. war ein strammer Nazi aus Brandenburg. Gemeinsam mit rechtsextremen Kumpanen versuchte er, einen Nigerianer zu erschlagen, zu verbrennen, zu ertränken. Das Opfer entkam nur knapp dem Tod. Carsten S. wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Von da an wurde er für den Verfassungsschutz interessant, als V-Mann „Piatto“. Sein V-Mann- Führer vom Verfassungsschutz chauffierte „Piatto“ verlässlich aus dem Gefängnis zu Nazikonzerten. So blieb Carsten S. in der Szene und für sie aktiv. Später absolvierte Carsten S. ein Praktikum. Obendrein hatte er eine Festanstellung in Aussicht.
Das beeindruckte offenbar auch eine Richterin. Er wurde vorzeitig entlassen, mit der klaren Auflage, sich künftig strikt von der Naziszene fernzuhalten. Der Richterin wurden allerdings zwei wesentliche Fakten verschwiegen: Das gelobte Praktikum hatte „Piatto“ in einem Naziszeneladen absolviert, und seine mögliche Festanstellung sollte in einer neuen Filiale desselben sein – alles von Verfassungsschutzes Gnaden, Täuschung der Justiz inklusive. Kurzum: Der Verfassungsschutz half, Verfassungsfeinde aufzubauen, anstatt die Verfassung zu schützen. Klarer kann sich das Amt nicht delegitimieren.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nun zum neuen Gesetz. Es besagt, dass Nazis, die sich schwerer Verbrechen gegen Leib und Leben schuldig gemacht haben, in aller Regel nicht mehr als V-Leute angeworben werden dürfen. Sind damit neue „Piattos“ ausgeschlossen? Nein; denn „in aller Regel“ bedeutet eben: Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel wenn das Informationsinteresse der Ämter für Verfassungsschutz schwerer wiege als die Straftaten von Nazis. In diesen Fällen werde die V-Leute-Frage zur Chefsache – Sie haben das eben ja auch noch einmal zitiert –, und diese Chefs müssten dann klug abwägen.
Also zurück zu „Piatto“. Ich habe den damaligen V-Mann-Führer von Carsten S. gefragt: Wie sehen Sie das im Rückblick? Glauben Sie nicht auch, dass das ein fataler Fehler war? Seine Antwort war unmissverständlich: Nein. Wochen später wurde derselbe „Piatto“-Führer Präsident des Verfassungsschutzes im Freistaat Sachsen. Wenn sich Sachsen entschließen würde, Ihren Gesetzentwurf als Landesgesetz zu übernehmen, wäre er also heute der neue Chefentscheider. Sie sehen: Das Gesetz hält nicht, was es verspricht. Deshalb wird die Linke Nein sagen.
Ich bleibe bei der V-Mann-Kontroverse. Der Thüringer Landtag gehört zu den wenigen Parlamenten, die sich intensiv mit dem NSU-Desaster auseinandergesetzt haben. Die rot-rot-grüne Regierung zog Konsequenzen:
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die falschen!)
Die V-Leute-Praxis soll radikal heruntergefahren werden.
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Abgeschafft!)
Dafür wird sie heftig als Sicherheitsrisiko beschimpft.
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Zu Recht!)
– Ich finde: zu Unrecht, Kollege Schipanski.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Eine Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger!)
Denn wer eine Praxis beendet, die Nazis verharmlost und letztlich stärkt, handelt rechtsstaatlich und humanistisch. Was sonst?
Gestatten Sie mir noch ein, zwei Sätze zu dem Antrag, den die Linke als Alternative vorgelegt hat. Im Kern geht es um zwei Vorschläge: Die Ämter für Verfassungsschutz sollen als Geheimdienste aufgelöst und in eine transparente Politikberatung umgewandelt werden. Und: Die V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden ist umgehend zu beenden. Unser Vorschlag ist weitgehend, grundgesetzkonform und obendrein geeignet, gesellschaftliches Engagement für Demokratie und Toleranz zu stärken. Ich freue mich auf Ihre Neugier beim Studium dieses Antrags und auf Ihre kluge Zustimmung.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Burkhard Lischka das Wort.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4968687 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 101 |
Tagesordnungspunkt | Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes |