Astrid FreudensteinCDU/CSU - Empfehlung der VN zur Behindertenrechtskonvention
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Probleme in Deutschland benannt und Empfehlungen gegeben. Um ehrlich zu sein: Ich war schon überrascht von der Radikalität des Papiers. Da folgen ganzen sechs Zeilen mit positiven Aspekten ganze zehn Seiten mit Missständen und Aufforderungen.
(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist schon bemerkenswert!)
Wenn man das Papier liest, hat man den Eindruck, der Prozess der Inklusion in Deutschland stehe ganz am Anfang und es sei bisher schlichtweg nichts passiert. Ich meine, dass das auch den vielen Menschen nicht gerecht wird, die sich jeden Tag beruflich oder auch ehrenamtlich für Behinderte einsetzen.
In vielen dieser Empfehlungen aus Genf schwingen pauschale Urteile mit, die mit der heutigen Behindertenhilfe in Deutschland nicht mehr viel zu tun haben. Die Abschaffung der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und von Förderschulen zu fordern, mag in ein theoretisches Konzept von Inklusion gut passen. Praktisch passt es aber nicht, vor allem nicht für die Gesamtheit der betroffenen Menschen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, dass 85 Prozent der Eingliederungshilfe in stationäre Einrichtungen gehen?)
Wir sprechen hier über gewachsene Strukturen und Einrichtungen in unserem Land. Ich bin sicher: Nicht alle diese Strukturen und Einrichtungen sind auf einmal schlecht.
Frau Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rüffer zu?
Ja. – Bitte, Frau Rüffer.
Frau Freudenstein, das hört sich jetzt ein bisschen so an, als wären Sie der Meinung, dass Werkstätten für behinderte Menschen inklusive Einrichtungen wären. Mich würde jetzt schon interessieren, was Ihre Haltung dazu ist.
Was sagen Sie dazu, dass 85 Prozent aller Mittel aus der Eingliederungshilfe in stationäre Einrichtungen fließen? Was hat das mit Personenzentrierung zu tun? Was hat das mit Inklusion zu tun? Sind Sie wirklich der Meinung, dass wir schon so weit sind, wie Sie suggerieren? Ich kann mir das nicht vorstellen.
Ich meine tatsächlich, dass wir, wenn es um das Wohl der Menschen mit Behinderungen geht, in allererster Linie nicht über das Geld reden sollten, wie Sie das tun,
(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja billig! Das habe ich nicht getan! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat sie nicht getan!)
sondern dass wir einmal schauen sollten, was die Menschen eigentlich wollen, wie sie leben wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Im Übrigen sind die Zugänge zu den Werkstätten rückläufig.
(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das stimmt auch nicht!)
– Doch! Dass mehr Menschen in Behindertenwerkstätten arbeiten, liegt daran, dass die Lebenserwartung steigt, und nicht daran, dass mehr behinderte Menschen in Behindertenwerkstätten arbeiten wollen.
Ich meine in der Tat, dass Werkstätten für Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am Arbeitsleben gewährleisten. Ich meine nicht, dass alle 300 000 Männer und Frauen, die dort beschäftigt sind, in Sonderwelten leben. Ich glaube, damit täte man den Menschen Unrecht.
(Beifall bei der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie sich mit Ihrem Koalitionspartner auseinandersetzen! Vielen Dank!)
Es gab so viele Veränderungen im Denken und in der Politik der vergangenen 60 Jahre, und es gab auch viele Veränderungen in den Einrichtungen der Behindertenhilfe,
(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, das geht nicht zusammen!)
und dieser Prozess hat sehr lange vor der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention begonnen – Gott sei Dank!
Werkstatt bedeutet meiner Meinung nach tatsächlich, nicht mehr in einer Sonderwelt zu arbeiten. Es gibt Außenarbeitsplätze. Das sind natürlich viel zu wenige; keine Frage. Aber es werden mehr. Es gibt Integrationsfirmen, und es gibt das Budget für Arbeit, das in vielen Bundesländern in Anspruch genommen werden kann.
(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! In Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, aber sonst nicht! Das stimmt doch nicht!)
Eine Öffnung der Einrichtungen hat bereits stattgefunden. Das gilt auch für die Förderschulen, Kollegin Rüffer, die vielerorts längst zu mobilen Förderzentren geworden sind und Partnerklassen oder einzelinkludierte Kinder in Regelschulen betreuen.
Natürlich läuft vieles nicht optimal. Natürlich müssen wir unser System immer und immer wieder verbessern. Natürlich muss der Prozess der Inklusion politisch beschleunigt und unterstützt werden. Aber was ich meine, ist: Wir sollten auf guten Strukturen aufbauen, statt sie niederzureißen. Ich meine, wir sollten die Strukturen ergänzen, statt sie gegeneinander auszuspielen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, wir wollen die Strukturen weiterentwickeln!)
Die Vehemenz, mit der Deutschland in den Empfehlungen des UN-Ausschusses als rückständig dargestellt wird, stört mich in der Tat. Selbst Sie von den Grünen trauen sich in Ihrem Antrag nicht, die Forderungen des Fachausschusses eins zu eins zu übernehmen, und das völlig zu Recht; denn sie sind radikal und in weiten Teilen einseitig.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollten Ihnen eine Chance geben, zuzustimmen!)
Der Antrag enthält einerseits Forderungen, die momentan im Rahmen der Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes behandelt werden. Wir werden zum Beispiel Anreize schaffen, um mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen. Wir setzen also durchaus Forderungen des Fachausschusses um. Wir wollen das aber mit den Betroffenen tun, und deshalb geht das auch nicht von heute auf morgen.
Der Antrag enthält andererseits aber auch Forderungen, die reichlich wirklichkeitsfern und ideologienah sind, etwa die Erhebung der Deinstitutionalisierung zum Königsweg der Inklusion. Sie schreiben, dass der geschützte Raum für manche Menschen mit Behinderung nicht der richtige Weg sei, und das stimmt. Es gibt viele – gerade auch jüngere Menschen –, die ihr Leben mit Handicap gut alleine organisieren können, wenn sie nur hie und da Unterstützung bekommen.
Ich sage aber auch: Es gibt auch Menschen, für die gerade dieser geschützte Raum einer Einrichtung wichtig ist. Sie wollen ihn, oder sie brauchen ihn. Ich habe viele Werkstätten für Menschen mit Behinderungen besucht. Da war von den Menschen sehr viel Positives zu hören. Selbst die beiden jungen Männer – die ich besucht habe –, die einen Außenarbeitsplatz bei einer Metallfirma haben, wollen weiterhin den Kontakt zu ihrer Werkstatt der Lebenshilfe.
(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 180 Euro pro Monat bei 35 Stunden pro Woche arbeiten!)
Es gibt also nicht den einen Königsweg, sondern für jeden einzelnen Menschen gibt es einen eigenen Königsweg.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Vorstellung von Inklusion hat nichts mit dem Wegreden von Verschiedenheit zu tun, sondern sie hat mit Individualisierung zu tun. Was zählt, ist der Mensch.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/5040942 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 103 |
Tagesordnungspunkt | Empfehlung der VN zur Behindertenrechtskonvention |