21.05.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 106 / Tagesordnungspunkt 11

Johannes Singhammer - Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten

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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe keinerlei Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Norbert Müller für die Fraktion Die Linke das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Krieg verursacht unermessliches Leid für Menschen, und Krieg hinterlässt eine riesige Menge an gefährlichem Müll. Seit dem 9. Mai 1945 stellt sich in Deutschland folgende Frage: Was soll mit den ganzen Weltkriegswaffen, Bomben und Granaten, passieren, und wer ist für deren Entsorgung verantwortlich?

Die Bundesrepublik trägt aufgrund der Subjektidentität mit dem Deutschen Reich die Kosten der Entsorgung sogenannter reichseigener Munition, also Wehrmachtsmunition, die im heutigen Territorium der Bundesrepublik Deutschland verblieben ist. Der Bund muss pro Jahr etwa 30 Millionen Euro für deren Beseitigung aufbringen. Nun gibt es aufgrund des Verlaufs des Zweiten Weltkrieges aber nicht nur reichseigene, sondern auch eine ganze Menge alliierter Rüstungsaltlasten auf deutschem Staatsgebiet.

Ich komme aus Ostbrandenburg. Als ich ein kleines Kind war, gab es immer die Belehrung, wenn wir im Wald spazieren gegangen sind: Hebe nichts auf, was nach Metall aussieht, es könnte explodieren. – Ostbrandenburg, das ist einer der Landstriche in Deutschland, der im April 1945 durch die dortigen unnötigen Kampfhandlungen der Wehrmacht am meisten verwüstet worden ist. Häufig sind es Fliegerbomben, die zu unser aller Leidwesen undetoniert in deutschem Boden liegen. Insgesamt haben die Alliierten etwa 1,3 Millionen Tonnen Fliegerbomben eingesetzt, um das Deutsche Reich zur Kapitulation zu bewegen. Davon sollen circa 250 000 nicht explodiert sein.

Wir wissen nicht genau, wie viele Bomben noch in deutschem Boden liegen. Besonders betroffen sind die Bundesländer Berlin, Hamburg, Brandenburg und Niedersachsen. Wer die Medien aufmerksam verfolgt hat, hat mitbekommen, dass in Hannover erst Anfang der Woche aufgrund der Entschärfung einer 250-Kilo-Weltkriegsbombe 31 000 Menschen ihre Wohnquartiere verlassen mussten – eine der größten Evakuierungen seit 1945.

Die anfallenden Kosten für die Entsorgung alliierter Munition müssen die betroffenen Länder und die Kommunen seit nunmehr 70 Jahren selbst tragen. Seit 1990 hat die Erkundung, Entschärfung und Entsorgung alliierter Rüstungsaltlasten, insbesondere von Fliegerbomben, alleine mein Land Brandenburg etwa 220 Millionen Euro gekostet, die anderswo dringender gebraucht werden. Die anderen betroffenen Bundesländer stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Für die Betroffenen ist völlig klar: Es gilt das Verursacherprinzip, und Verursacher des Zweiten Weltkriegs sind nicht die Alliierten, auch nicht die Kommunen oder die Länder, sondern das Deutsche Reich und in Folge und Verantwortung die Bundesrepublik Deutschland, die dieses Erbe nicht ausschlagen kann, sondern annehmen muss.

Mit der Beschlussfassung über den Entwurf eines Gesetzes über die Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland hat der Bundesrat zuletzt am 11. Juli 2014, und damit insgesamt zum sechsten Mal nach 1992, 1997, 2001, 2003 und 2011, die Bundesrepublik Deutschland in die Pflicht nehmen wollen. Was ist seit 1992 mit diesem inzwischen nahezu einstimmig getroffenen Beschluss des Bundesrates passiert? Nichts! Es ist jedes Mal gar nichts passiert.

Jede Bundesregierung seit Helmut Kohl hat dieses Thema abgewürgt, ausgesessen oder schlichtweg ignoriert. Daran sind nahezu alle Parteien in diesem Haus beteiligt. Die Sozialdemokraten waren bei Abstimmungen im Bundestag 1993 und 1998 als Oppositionsfraktionen dafür. Jürgen Trittin – er war grüner Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten in Niedersachsen, er war sogar Beauftragter des Bundesrates für die Rüstungsaltlastenfinanzierung – hat als Minister im Kabinett Gerhard Schröder gegen sein eigenes Gesetz gestimmt. Die CDU war zeitversetzt adäquat verwirrt: Sie war 1993 und 1998 im Bund unter Bundeskanzler Kohl dagegen, dass sich der Bund an der Kostenfinanzierung beteiligt, in der Opposition 2004 dann aber dafür.

Seit der Großen Koalition unter Kanzlerin Merkel war man sich einig, dass man am besten gar nicht mehr über das Thema spricht. Seit dem letzten großen Anlauf 2011 warten die Bundesländer nun darauf, dass die Große Koalition das Gesetz in den Bundestag einbringt. Die Rechnung der Bundesregierung scheint klar – das ist Ihrem Bericht zu entnehmen –: Je mehr Zeit vergeht, umso mehr Munition wird in der Zwischenzeit auf Kosten der Kommunen und der Länder entsorgt. Wo die schwarze Null den Haushalt regiert, müssen die berechtigten Interessen der eigenen Landesregierung hintanstehen. Es waren Landesregierungen aus CDU, aus SPD, häufig auch aus FDP, Grünen und Linken, die dem Gesetz zugestimmt oder es in den Bundesrat eingebracht haben.

Das Aussitzen hier im Bund ist verdammt gefährlich. Nach über 70 Jahren verwittern langsam die Kunststoff- und Zellulosesicherungen der chemischen Langzeitzünder von Fliegerbomben. Hierdurch wird eine Entschärfung massiv erschwert und lebensgefährlich. Selbst sogenannte Spontandetonationen ohne jeglichen äußeren Einfluss in besiedelten Gebieten sind nicht auszuschließen. Dass es in der Vergangenheit Spontandetonationen nur in unbesiedelten Gebieten gegeben hat, dass kaum jemand zu Schaden gekommen ist, dass es nur Sachschäden gab, das grenzt – und ich bin nicht besonders gläubig – fast an ein Wunder. Wir können nur hoffen, dass es auch in Zukunft so ist; aber man darf eben nicht nur hoffen, sondern muss die Beseitigung von Rüstungsaltlasten aus dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die systematische Suche nach Fliegerbomben und deren Entschärfung, auch vorantreiben.

Dabei kann man die Länder nicht mehr im Regen stehen lassen. Da muss der Bund in die Finanzierung mit eintreten; er ist hier auch in der Pflicht. Die Bundesregierung gefährdet das Leben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kampfmittelbeseitigungsdienste sowie von Bürgerinnen und Bürgern, die über Blindgängern wohnen oder arbeiten.

Kollege Uwe Feiler – Sie sind anwesend –, ich habe Ihr Interview im Rundfunk Berlin-Brandenburg gesehen. Ich finde es, ehrlich gesagt, der Sache völlig unangemessen, zu argumentieren, man könne ja im Rahmen der Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen dann irgendwann mal darüber reden, 2018/2019. Nein, wir brauchen keine Regelung 2018/2019, wir brauchen jetzt eine Regelung. Die Länder warten seit 25 Jahren darauf und haben sechsmal im Bundesrat dafür gestimmt.

Wir haben uns als Linksfraktion des vom Bundesrat erteilten Auftrags an die Bundesregierung angenommen. Wir haben lange genug gewartet, dass die Bundesregierung, die Koalition selbst aktiv wird aufgrund des Beschlusses des Bundesrates, und bringen einen entsprechenden Gesetzentwurf nun selbst in den Deutschen Bundestag ein. Damit haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten der SPD und der Union – eingeladen sind auch die Kolleginnen und Kollegen der Grünen –, die Möglichkeit, den auch von Ihren Landesregierungen getragenen Beschluss zum Gesetz zu erheben und den Bund endlich in die Verantwortung zu nehmen und an der Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten zu beteiligen. Zeit wird es.

Vielen Dank.

Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege Klaus-Dieter Gröhler.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5115413
Wahlperiode 18
Sitzung 106
Tagesordnungspunkt Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten
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