17.06.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 111 / Tagesordnungspunkt 1

Jens SpahnCDU/CSU - Hospiz- und Palliativversorgung

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 66 Prozent der Deutschen sagen, sie würden gerne zu Hause sterben können, aber nur 20 Prozent ist das tatsächlich vergönnt. Sie haben darauf hingewiesen: Es geht um Hunderttausende Menschen, die jedes Jahr sterben. Nur 3 Prozent sagen in Umfragen, sie würden es sich wünschen bzw. vorstellen können, im Krankenhaus zu sterben; das wäre eine Option für sie. Tatsächlich stirbt etwa die Hälfte – gute 50 Prozent – aller Menschen in Deutschland in Krankenhäusern. Nur 1 Prozent sagt, sie können es sich vorstellen bzw. würden es sich wünschen, in einem Pflegeheim zu sterben. Tatsächlich sterben etwa 23 Prozent in einer Pflegeeinrichtung.

Allein diese wenigen Zahlen machen deutlich, für wie wenige Menschen der Wunsch, zu Hause zu sterben – sie sagen für sich: das sind das Umfeld und die Situation, in denen ich aus dieser Welt scheiden möchte; das möchte ich durchleben und erleben –, tatsächlich wahr wird. Deswegen ist es wichtig, dass wir das durch eine gute ambulante Palliativversorgung und einen entsprechenden Ausbau möglich machen.

Wir haben 2007 mit einem ersten entsprechenden Gesetz begonnen, durch das diese Leistungen vor acht Jahren in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen wurden. Seitdem ist viel passiert, aber noch nicht flächendeckend genug. Deswegen ist es gut und wichtig, dass wir mit diesem Gesetzentwurf weitere Schritte gehen, um diesem Wunsch gerecht zu werden und die ambulante Palliativversorgung in Deutschland auszubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu müssen natürlich viele kleine Maßnahmen ergriffen werden, die auch schon angesprochen wurden, zum Beispiel die Einführung von Schiedsstellen, das Vergüten bestimmter Leistungen, das Anheben der ärztlichen Vergütung und Kooperationen mit Pflegeeinrichtungen.

Frau Zimmermann, Sie haben hier einige Forderungen erhoben, denen am Ende auch niemand widersprechen mag. Das Problem ist nur: Diese sind so allgemeingültig, dass den Menschen damit nicht geholfen ist. Sie müssen im Gesetzentwurf am Ende dann schon auch konkrete Maßnahmen vorsehen, die zum Teil eben kleinteilig sind und deren Umsetzung zu einer besseren Versorgung führen kann.

Eines werden Sie uns nicht ausreden können, nämlich, dass wir viele gute Maßnahmen vorgeschlagen haben, die in die richtige Richtung gehen. Es wäre schön, wenn Sie das im Interesse der Menschen auch einmal anerkennen würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Personalbemessung! Sie müssen einmal zuhören!)

Es ist gerade gesagt worden, man solle diese Debatte hier nicht parteipolitisch ausschlachten.

(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Genau!)

Dass Sie daraus indirekt wieder eine Debatte über die Bürgerversicherung und über die private und gesetzliche Krankenversicherung machen, sieht mir sehr nach Ausschlachten aus.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dazu hat sie kein Wort gesagt!)

– Sie haben von unterschiedlichen Klassen bei der Palliativversorgung gesprochen.

(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Nein, habe ich nicht! Ich habe gesagt: unabhängig von der Versicherung, die jemand hat!)

– Ja, unabhängig von der Versicherung. Damit deuten Sie das an.

Das eigentliche Problem ist übrigens ein anderes – das muss hier auch einmal gesagt werden –: Die Privatversicherten haben an dieser Stelle viel mehr Probleme als die gesetzlich Versicherten, weil sich die privaten Krankenversicherungen oft weigern, eine Palliativversorgung zu bezahlen. Wenn wir an dieser Stelle gemeinsam mit Ihnen zu einer Verbesserung für die Privatversicherten kommen können, dann können wir gerne darüber reden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Sie sollten Ihre Arbeit ordentlich machen!)

Ein weiterer Punkt, der vielen Menschen in dieser Debatte wichtig ist – dies beschäftigt und besorgt sie, weshalb man diese Debatte heute nicht ganz von der Debatte über Sterbehilfe trennen kann, Frau Mattheis –, ist die Angst vor einem qualvollen Tod. Sie haben Angst vor Schmerzen, Atemnot und Leid. Aus dieser Angst und dieser Sorge heraus wächst – das zeigen auch Umfragen – der Wunsch nach Sterbehilfe bzw. nach der Möglichkeit, diese Option zu haben, um dem Leid zu entgehen. Deswegen kann man diese beiden Debatten nicht völlig voneinander trennen.

Wenn es aber so ist, dass vor allem diese Angst vor Leid und Qualen während des Sterbeprozesses dazu führt, dass viele überhaupt erst über die Option der Sterbehilfe nachdenken, dann ist doch die erste und beste Antwort auf diese Sorgen, dass wir sagen: Jeder in Deutschland soll die Möglichkeit haben, soweit es eben geht, ohne Schmerzen und Angst vor Atemnot mit einer entsprechenden medizinischen und pflegerischen Begleitung sterben zu können. Wir wollen den Menschen genau diese Angst nehmen, indem wir ihnen ein Angebot machen. Das ist die erste und beste Antwort auf die Debatte zur Sterbehilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Noch ein Punkt: Wir sind – wenn wir den Blick auf die Diskussion über die Palliativmedizin insgesamt in den letzten 15 bis 25 Jahren richten – doch weitergekommen. Auch hier ist ein enormer Fortschritt erkennbar.

Überhaupt hat sich die Frage bezüglich einer Palliativversorgung in diesem Umfang erst gestellt, nachdem es ab den 60er- und 70er-Jahren moderne medizinische Möglichkeiten wie eine Reanimation bzw. Wiederbelebung in der Folge der künstlichen Beatmung und künstlichen Ernährung gab. Erst dadurch sind an vielen Stellen viel längere Sterbeprozesse – über viele Wochen, Monate und zum Teil sogar Jahre hinweg – und ganz andere Situationen am Lebensende entstanden. Dadurch stellte sich die Debatte über Fragen des Sterbens bzw. des Sterbeprozesses noch einmal ganz anders dar, als es in den vielen Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden vorher der Fall war.

Wir haben in den letzten 40 bis 60 Jahren ganz enorme Fortschritte erlebt, was die Möglichkeiten der Medizin angeht. Das hat zunächst erst einmal dazu geführt, dass wir lange leben können. Außerdem kann im Sterbeprozess noch vieles zusätzlich möglich gemacht werden.

Ein Problem dabei war – das wird erst seit 10, 20 Jahren in der Medizin bzw. bei den Ärzten, in der Gesellschaft und der Politik richtig diskutiert –, dass der Fokus viel zu lange und in zu starkem Maße auf folgende Fragen gerichtet war: Was geht technisch noch? Was können wir noch an Technik bzw. Gerät und Medizin einsetzen, um irgendetwas zusätzlich möglich zu machen? Man hat dabei nicht die Debatte über die Fragen zugelassen: Was ist eine gute, sinnvolle und qualitätsvolle Sterbebegleitung? Wann sollte man es vielleicht auch einmal gut sein lassen? Es ging darum, überhaupt erst einmal anzuerkennen, dass es Situationen gibt, in denen ein Arzt nicht mehr heilen bzw. behandeln und etwas besser machen kann, sondern dass nichts mehr geht und der Prozess des Sterbens einsetzt.

Aus dem Anerkennen der Tatsache, dass man am Ende der Möglichkeiten ist, wurde in den 90er-Jahren eine gute Sterbebegleitung, Palliativversorgung und Hospizarbeit entwickelt. Das ist der Qualitätsschritt, der in den letzten 10, 20 Jahren gelungen ist. Er findet in dieser Debatte, die wir aktuell hier haben, eine gute und sinnvolle Fortsetzung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Abschließend richte ich einen Appell an uns alle. Dafür sind ja Debatten wie diese – sie finden auf vielen Veranstaltungen, die wir auch vor Ort haben, statt – geeignet. Sie erfreuen sich übrigens – auch wenn es um Patientenverfügungen und ähnliche Themen geht – großen Interesses. Man wundert sich, wie viele Menschen mit ganz konkreten Fragen zu solchen Veranstaltungen kommen. So wird das Sterben ein Stück weit wieder ins Leben bzw. in den Alltag zurückgeholt.

Ich weiß noch – ich habe das hier, glaube ich, schon einmal gesagt –, wie mir meine Eltern und meine Großeltern gesagt haben: Früher war das Sterben zu Hause ganz normal. Es war auch selbstverständlich, dass man als Kind die Großmutter oder den Großvater hat sterben sehen. Ich war um die 30, als ich zum ersten Mal einen Toten gesehen habe. Es gibt viele Menschen, die 50 oder 60 Jahre alt sind und noch nie in ihrem Leben einen Toten gesehen haben. Wir schieben das weg – außerhalb dessen, was Familie, Zuhause bzw. Heim ist.

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir mit dieser Debatte das Sterben bzw. den Tod wieder als Teil des Lebens in den Alltag zurückholen; denn damit enttabuisieren wir den Tod. Dann ist es möglich, über all die Dinge zu diskutieren, über die auch wir hier reden. Und es ist weiterhin möglich, auch über das zu sprechen, was notwendig für eine gute Sterbebegleitung ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5260684
Wahlperiode 18
Sitzung 111
Tagesordnungspunkt Hospiz- und Palliativversorgung
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