17.06.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 111 / Tagesordnungspunkt 4

Thomas LutzeDIE LINKE - 17. Juni 1953 - Für Freiheit, Recht und Einheit

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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste! Sehr geehrter Herr Wegner, ich könnte sehr gerne auf Hindenburg als Straßennamen verzichten. Bei Rosa Luxemburg fällt mir das ein bisschen schwerer.

Nun zum eigentlichen Anlass. Gewalt gegen die Bevölkerung ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen. Das gilt für die gewaltsame Niederschlagung der Proteste in der DDR im Jahr 1953 ebenso wie für den Bau der Mauer in Berlin und die Schließung der Grenze zur Bundesrepublik im Jahr 1961. Heute gedenken wir vor allem der Opfer, und niemand wird vergessen.

Im Jahr 1953 war Deutschland gespalten. Diese Spaltung war ein Ergebnis des von Nazideutschland verschuldeten Zweiten Weltkrieges. Während sich 1953 in der Bundesrepublik wirtschaftliche Aufbruchstimmung verbreitete, waren die Voraussetzungen in der damaligen DDR grundlegend anders. Im Osten gab es keinen Marshallplan – zumindest hat man es nicht angenommen –,mit dem man die zerstörte und daniederliegende Wirtschaft hätte aufbauen können. Ganz im Gegenteil: Die DDR musste immense Reparationen an die Sowjetunion zahlen. Dies und die politische Fehleinschätzung der regierenden SED führten dazu, dass sich die Arbeiter auflehnten, protestierten und letztendlich streikten. Den Herrschenden in der DDR fiel – auch unter dem direkten Einfluss Moskaus – nichts Besseres ein, als die eigenen Leute zusammenschießen zu lassen. Auch wenn die militärische Gewalt maßgeblich durch die in der DDR stationierte Rote Armee ausgeführt wurde – die wesentliche Verantwortung lag bei der damaligen DDR-Regierung.

(Beifall im ganzen Hause)

Noch einmal: Gewalt ist, wenn man die historischen Rahmenbedingungen einordnet, durch nichts zu rechtfertigen.

Fakt ist auch, dass sich die damalige DDR nicht im luftleeren Raum entwickeln konnte. Deutschland, Europa und große Teile der Welt waren mitten im Kalten Krieg. Das atomare Wettrüsten war auf beiden Seiten in vollem Gange. In Korea zum Beispiel tobte ein Stellvertreterkrieg, der in seiner Brutalität dem Zweiten Weltkrieg in nichts nachstand. Beide Seiten der geteilten Welt stritten um ihren Einflussbereich, und dies mit fast allen Mitteln. Lediglich auf den Einsatz von Atomwaffen hat man verzichtet, weil man wusste, dass dann die Menschheit vernichtet worden wäre.

Und auch innerhalb Deutschlands war das nicht anders. Provokationen, Manipulationen und gegenseitige Einflussnahme zulasten des jeweils anderen bestimmten den innerdeutschen Alltag. Auch hier trägt der Westen eine gewisse Mitverantwortung dafür, dass die innenpolitische Situation in der DDR im Jahr 1953 eskalierte.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Unsinn!)

Erst die Entspannungspolitik Willy Brandts führte dazu, dass sich die beiden deutschen Staaten gegenseitig nicht wie kleine Kinder, sondern wie Erwachsene behandelten.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ein zweiter Aspekt. Es war auch ein gravierender Fehler in 40 Jahren DDR, dass es kein Streikrecht und keine freien Gewerkschaften gab.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben ein Recht darauf, ihre Interessen über Gewerkschaften und auch über Streiks zum Ausdruck zu bringen und durchsetzen zu können. Die Worte „Selbstbestimmung“ und „Mündigkeit“ klingen so einfach, passen aber nicht in gewisse Machtstrukturen, erst recht nicht in die der damaligen DDR. Gestatten Sie mir deshalb einen vorsichtigen Hinweis auch auf aktuelle Diskussionen. Wenn auch die Rahmenbedingungen heute vollkommen anders sind: Wenn heutzutage Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände davor warnen und sich darüber beschweren, dass zu viel gestreikt wird, dann ist das historisch gesehen ein gewisser Widerspruch und eine fatale Fehleinschätzung.

(Beifall bei der LINKEN)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin Jahrgang 1969 und in Leipzig aufgewachsen. Ich habe als Zwanzigjähriger die politische Wende in meiner damaligen Heimatstadt miterlebt und vielleicht ein ganz klein wenig auch mitgestaltet. Es war für mich eine sehr spannende Zeit. Ich erinnere mich sehr gerne daran, manchmal auch etwas wehmütig. Auf den Montagsdemos im Sommer und im Herbst 1989 sah ich Hunderte sogenannte Angehörige der bewaffneten Organe – so nannte man damals Polizei, Armee und Staatssicherheit – in der Leipziger Innenstadt. Viele von denen, die bewaffnet auf Lkws saßen, waren im gleichen Alter wie ich. Ich ging wenige Jahre zuvor mit ihnen zusammen zur Schule. Sie hatten das Pech, gerade jetzt ihren meist unfreiwilligen Wehrdienst ableisten zu müssen. Diesen Wehrdienst konnte man in der DDR nicht verweigern,

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Doch!)

vor allem dann nicht, wenn man studieren wollte. Erst Jahre später habe ich für mich realisiert, wie gefährlich die Situation damals war. Freunde berichteten, dass sie wochenlang in ihren Kasernen saßen und diese Kasernen nicht verlassen konnten. Sie hockten nun mit Waffen und scharfer Munition auf den Lkws.

Im Gegensatz zu 1953 bekamen sie nicht den Befehl, auf die eigenen Leute zu schießen. Der Ruf „Keine Gewalt!“ siegte. Er siegte, weil die, die demonstrierten, besonnen blieben. Er siegte auch, weil die, die die Möglichkeit hatten, einen Schießbefehl zu geben, diesen Befehl nicht gaben. Trotz aller Vorbehalte muss man den Verantwortlichen der damaligen DDR-Regierung des Jahres 1989 dafür auch danken. Sie hätten die Macht dazu gehabt. Sie hatten es sich mit Sicherheit moralisch auch schon so zurechtgelegt, dass es passt. Trotzdem gab es in Leipzig, in Dresden und in Plauen kein zweites Peking.

Ich bin dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit hatte, nach 1990 in einem geeinten Deutschland und in einem zusammenwachsenden Europa leben zu können. Damit hatte ich als Jugendlicher 1987 und 1988 im Leben nicht gerechnet. Ich konnte in Saarbrücken studieren, später dort arbeiten, und ich vertrete seit 2009 Wählerinnen und Wähler aus dem Saarland im Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der LINKEN)

Gewalt – das sagte ich schon zweimal – ist durch nichts zu rechtfertigen. Dieser Grundsatz ist für mich allgemeingültig. Das gilt gleichermaßen für die Opfer des 17. Juni wie auch für die Opfer an der innerdeutschen Grenze. Es gilt für die zusammengeschossenen Menschen auf dem Pekinger Tiananmen-Platz. Es gilt für die Kinder Vietnams, die von Napalmbomben verstümmelt wurden, und es gilt auch für die Zivilisten in Afghanistan, die heute von US-Drohnen getötet werden, Drohnen, die man von Deutschland aus steuert. Diese Gewalt ist zu verurteilen, ganz gleich, was vorgegeben wird, um sie zu rechtfertigen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir uns heute, vollkommen zu Recht und dringend notwendig, an das erinnern, was in der früheren DDR am 17. Juni 1953 geschah, so muss man auch daran erinnern – das tun wir von der Linksfraktion immer wieder –, dass Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, noch heute Nachteile im vereinten Deutschland haben, nur weil sie in der DDR aufgewachsen sind. Auch da müssten wir konsequent handeln und dieses Unrecht endlich beseitigen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke für die SPD- Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5261418
Wahlperiode 18
Sitzung 111
Tagesordnungspunkt 17. Juni 1953 - Für Freiheit, Recht und Einheit
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