Iris GleickeSPD - 17. Juni 1953 - Für Freiheit, Recht und Einheit
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 17. Juni 1953 steht in der demokratischen Tradition Deutschlands auf gleicher Höhe mit der gescheiterten Revolution von 1848 und der erfolgreichen Revolution von 1989.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben zudem in jenen Junitagen des Jahres 1953 als Erste im kommunistischen Machtbereich ein weithin sichtbares Signal für den Beginn einer großen Freiheitsbewegung in Ost- und Mitteleuropa gesetzt. Dieser Volksaufstand wurde durch die sowjetische Armee brutal niedergeschlagen. Es gab Tote und Verletzte. Ob später beim Ungarn-Aufstand 1956 oder beim Prager Frühling 1968: Es rollten die russischen Panzer. Die in Mittel- und Osteuropa herrschenden kommunistischen Regimes konnten ihre Macht nur dank massiver sowjetischer Rückendeckung aufrechterhalten. Immer wieder zeigte sich, dass niemand den Aufständischen zu Hilfe kam, weil niemand bereit war – weil Gott sei Dank niemand bereit war –, einen dritten Weltkrieg zu riskieren. Es konnte niemand kommen, es konnte niemand helfen, und deshalb endeten all diese Aufstände fast zwangsläufig in einer Tragödie. Wenn man sich das vor Augen führt, wird einem klar, was für ein unglaubliches Glück wir 1989 hatten.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
In Westdeutschland wurde der 17. Juni zum Tag der Deutschen Einheit, mit dem der Gedanke an die Einheit wachgehalten werden sollte. Aber je länger die Teilung dauerte, desto ferner rückte die Hoffnung auf ihre Überwindung. In letzter Konsequenz war es der Mut der Menschen in der DDR, die es trotz der traumatischen Erfahrungen des 17. Juni 1953 und trotz ihrer Angst vor einer „chinesischen Lösung“ wagten, die Diktatur herauszufordern und mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ zu entwaffnen. Die Diktatur wurde nicht mit Schwertern, sondern mit Pflugscharen besiegt und hinweggefegt. Es war eine sanfte Gewalt, mit der die Mauer niedergerissen wurde.
1989 fügte sich so vieles glücklich zusammen. In ganz Osteuropa wurde der Ruf nach Freiheit immer lauter. Wir schauten nach Ungarn und nach Polen. Wir sahen, wie Michail Gorbatschow Glasnost und Perestroika propagierte. Vor diesem Hintergrund wurde die Unfähigkeit der greisen Staats- und Parteiführung in der DDR immer offensichtlicher. Es waren glückliche Umstände. Es war der richtige Zeitpunkt. Es waren die richtigen Menschen, die zum richtigen Zeitpunkt das Heft des Handelns an sich rissen. Nur so konnte das Wunder der friedlichen Revolution gelingen.
So viel Glück war den Aufständischen vom 17. Juni 1953 nicht beschieden. Die politischen Rahmenbedingungen jener Tage waren andere. Nur acht Jahre nach dem gemeinsamen Sieg der Alliierten über Hitler- Deutschland standen sich die einstigen Verbündeten in Ost- und Westdeutschland unversöhnlich gegenüber. Ein Eiserner Vorhang trennte Europa in seiner Mitte, zwischen dem kommunistischen Ostblock und dem Einflussbereich der Westmächte. Es herrschte ein Kalter Krieg.
Die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft wurden unter der absolut beherrschenden Führung der Sowjetunion rigide zusammengehalten. Der innere Aufbau dieser Staaten folgte durchgängig dem Typus einer totalitären Einparteiendiktatur. Sogenannte verbündete Blockparteien änderten daran gar nichts. Um jegliche Opposition entschlossen zu unterdrücken und ihre eigene Macht sowie die Geschlossenheit des Ostblocks zu festigen und zu sichern, stützten sich diese Regimes auf einen umfangreichen Sicherheits- und Unterdrückungsapparat.
Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Staaten bestand darin, dass die unter Führung der kommunistischen Parteien propagierten Ziele zum Aufbau des Sozialismus sowjetischer Prägung bei breiten Teilen der Bevölkerung auf klare Ablehnung stießen. Elementare demokratische Rechte wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit oder Reisefreiheit waren nicht einmal im Ansatz zugelassen. Aber für lange Zeit blieben die Sowjetunion, der Ostblock, der Warschauer Pakt stabil. Der Eiserne Vorhang trug seinen Namen zu Recht und fand an der innerdeutschen Grenze mit Stacheldraht und Minenfeld, mit Selbstschussanlagen und Schießbefehl seine traurigste und irrsinnigste Gestalt.
Nur langsam, mit einer Politik der kleinen Schritte, mit der von Willy Brandt begonnenen Entspannungspolitik gelang es, diese schier unüberwindliche Grenze ein wenig durchlässiger zu machen. „ Wandel durch Annäherung“, so lautete damals ein später übel geschmähtes Wort. Und auch Brandts Nachfolger Helmut Schmidt und Helmut Kohl suchten und fanden trotz aller Schmähungen das Gespräch mit der Staats- und Parteiführung der DDR. Viele erinnern sich noch an die Bilder: Willy Brandt 1970 in Erfurt, Helmut Schmidt 1981 auf dem Weihnachtsmarkt in Güstrow, Helmut Kohl, der Erich Honecker 1987 mit militärischen Ehren in Bonn empfing.
Diese Entspannungspolitik war richtig. Sie war schon allein deshalb richtig, weil sie den Menschen in der DDR Erleichterungen brachte.
(Beifall im ganzen Hause)
Denken Sie an die Häftlingsfreikäufe, an die Familienzusammenführungen, an die Verwandtenbesuche! An dieser Entspannungspolitik hielt man fest – trotz aller Widrigkeiten und Widersprüche, trotz Afghanistan-Einmarsch und Olympiaboykott, trotz der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen, trotz der SS-20-Stationierung und des NATO-Doppelbeschlusses. Es gab keine Alternative zu dieser Entspannungspolitik; denn das war ja die Lehre aus dem 17. Juni 1953, aus dem Ungarn-Aufstand, aus dem Prager Frühling: Es würde niemand zu Hilfe kommen. Die Zeit musste reifen, auch wenn das für nicht wenige eine sehr bittere Erkenntnis gewesen sein muss und sicherlich gewesen ist.
Meine Damen und Herren, die große Mehrheit unseres Volkes und auch die große Mehrheit der Mitglieder dieses Hohen Hauses haben die Realität der DDR-Diktatur nie aus eigenem Erleben kennengelernt. Ich gönne es ihnen allen, dass sie ihr ganzes Leben in Freiheit verbracht haben, und ich bin froh darüber, dass in Ost und West unterdessen eine neue Generation herangewachsen ist, die nie etwas anderes als die gesamtdeutsche Demokratie kennengelernt hat. Ich wünsche mir nur von allen etwas mehr aufrichtiges Gedenken an diejenigen, die damals, 1953, mutig und tapfer waren und die trotzdem scheitern mussten.
(Beifall im ganzen Hause)
Ihr Mut, ihre Träume, ihre Ideale, all das dürfen wir niemals vergessen. Mir geht es nicht um ein pathetisches und innerlich gelangweiltes Heldengedenken, das zur Pose erstarrt und von dem aus man ganz schnell wieder zur Tagesordnung übergeht. Mir geht es mehr um ein stilles Gedenken, und sei es auch noch so kurz und nicht nur am 17. Juni, ein stilles Nachdenken darüber, dass der 17. Juni 1953 zur Tragödie wurde, weil damals noch nicht gelingen konnte, was 36 Jahre später gelungen ist. – Ich danke Ihnen.
(Beifall im ganzen Hause)
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Steffi Lemke das Wort.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/5261429 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 111 |
Tagesordnungspunkt | 17. Juni 1953 - Für Freiheit, Recht und Einheit |