18.06.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 112 / Tagesordnungspunkt 5

Katrin Göring-EckardtDIE GRÜNEN - Regierungserklärung zum Europäischen Rat

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich glaube, ehrlich gesagt, dass die Situation zu ernst ist, um mit solchen Aktionen zu versuchen, Europa weiter in Misskredit zu bringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: Klamauk!)

Frau Merkel, Sie haben hier heute nur einen Satz zum G-7-Gipfel gesagt. Sie haben sich damit einer Debatte über die Ergebnisse des G-7-Gipfels in diesem Hause verweigert – ich hoffe, man kann sagen: nur bisher verweigert. Wenn Sie sich aber hierhinstellen und sagen: „Wir müssen im Rahmen von G 7 und G 20 sehr viel umsetzen“, doch schon zwei Tage nach dem Gipfel im eigenen Land die Kohleabgabe versenken, die notwendig wäre, um das umzusetzen, was Sie auf der großen Bühne beschlossen haben, also auf weltpolitischer Ebene groß vom Klimaschutz sprechen, in Deutschland aber Denkmalschutz für die Braunkohle betreiben, ist das alles andere als glaubwürdig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, Sie haben einen Satz, den Sie hier schon sehr oft gesagt haben, heute nicht wiederholt, nämlich: Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa. – Es ist ziemlich genau fünf Jahre her, dass Sie das zum ersten Mal gesagt haben. Heute darf man nicht nur, sondern muss man die Frage stellen: Haben Sie eigentlich noch das gesamte Europa im Blick, oder geht es nur noch um den nächsten Kredit, nur noch um den nächsten Showdown, nur noch um Haltungsnoten? Hat die Union – nach den Äußerungen in dieser Woche und vor allen Dingen nach Ihrer Rede, Herr Oppermann, muss man das allerdings auch die SPD fragen –, hat die SPD das gemeinsame Europa eigentlich noch als gemeinsame Werte- und Solidargemeinschaft im Blick, oder geht es nur noch um Gezerre, um Hin und Her?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Darüber haben wir doch gesprochen!)

Vielleicht ist es ja so, dass Sie das im Blick haben; aber dann wird offenbar nicht öffentlich darüber geredet. Es wird ausgewichen, es wird über zentrale Fragen gar nicht gesprochen. Es wird so getan, als sei es wirklich offen, ob es die 7 Milliarden Euro, über die wir in dieser Woche reden, gibt.

Warum wird nicht darüber gesprochen, was tatsächlich los ist? Sie haben vorhin gesagt, das alles müsse nachhaltig wirken können. Dann müssen Sie Ihren eigenen Leuten aber auch sagen: Natürlich wird es ein nächstes Hilfspaket für Griechenland geben. – Das wäre ehrlich, und das wäre auch konsequent in dieser Diskussion.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber was passiert, wenn wir so viel Schindluder mit Europa treiben, wenn wir so viel darüber reden, was alles nicht geht? Wenn Sie heute Zwanzigjährige fragen, woran sie bei Europa denken, dann sagen diese nicht „Frieden“ oder „Freiheit“, dann denken sie noch nicht einmal an Erasmus. Nein, dann sagen sie heute: Krise.

(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Stimmt so nicht!)

Soll das denn die Zukunft dieses Europas sein? Wir sind dabei, sie zu verscherbeln, auch in der Emotionalität der Europäerinnen und Europäer.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen: Reden Sie endlich darüber, was ist. Wenn Griechenland aus dem Euro stürzt, dann wäre das eine Bruchlandung für die gesamte Europäische Union. Wenn Griechenland aus dem Euro stürzt, dann wären die Kosten für Deutschland immens, dann hätten wir eine humanitäre Katastrophe in Europa. Griechenland aus dem Euro zu stürzen, würde aber auch bedeuten, dass man 70 Milliarden Euro sofort in den Wind schießt – das sind die deutschen Kredite, die gegeben wurden –, statt 7 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen. Ich glaube nicht, dass das glaubwürdig ist. Wenn es um deutsche Interessen geht, dann muss man auch darüber reden, und zwar ehrlich, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Europa – das ist nicht nur etwas für Sonntags- und Schaufensterreden. Europa soll ja eine Solidar- und Wertegemeinschaft sein. Mit diesem Ziel ist es gegründet worden. Europa stärkt man, indem man eine klare Haltung einnimmt, aber nicht mit Deals und nicht mit Muskelspielen. Das gilt übrigens für beide Seiten. Man muss auch Herrn Varoufakis sagen: Man kann in Griechenland keine Renten, keine Medikamente und keine Schulbücher damit bezahlen, dass man sich für schlauer hält als der Rest.

(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist eine gute Äußerung!)

Herr Bosbach – ich weiß gar nicht, ob er heute da ist –, ich will das noch einmal wiederholen: Sie spielen ganz bewusst mit dem Feuer. Sie bringen nämlich die Menschen gegen dieses gemeinsame Europa auf, wenn Sie so über Europa, wenn Sie so über Griechenland reden, wie Sie es in den letzten Tagen getan haben. Nein, das reale Renteneintrittsalter in Griechenland liegt bei den Frauen gerade einmal ein Jahr unter dem in Deutschland. Wenn man da ein falsches Spiel spielt, dann wird man nur weiter dafür sorgen, dass die Verunsicherung in der Bevölkerung, auch in unserer, wächst. Wenn man dieses Spiel spielt, Herr Oppermann, macht das keine Freude, sondern das wird dazu führen, dass sich demnächst noch mehr als 70 Prozent fragen, ob wir eigentlich diese weiteren Hilfen brauchen. Wir brauchen Ehrlichkeit, und wir müssen sagen: Es geht auch um uns. Deshalb müssen wir Griechenland nicht nur retten, sondern auch dafür sorgen, dass es eine echte Perspektive hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen eine Lösung für dieses Land, für die Bevölkerung in diesem Land. Die griechische Regierung muss zugleich mit Klientelsystemen und Günstlingswirtschaft aufräumen. Ja, sie muss gegen Steuerhinterziehung vorgehen, und die oberen 10 Prozent müssen ihren gerechten Beitrag leisten. Sie muss auch Prioritäten setzen. Es kann nicht sein, dass man auf der einen Seite für eine OP in einem Krankenhaus in Griechenland das Verbandszeug selber mitbringen muss und dass auf der anderen Seite Rüstungsgüter mit dem wahnsinnigen Wert von 11 Milliarden Dollar nach Griechenland importiert werden. Mich wundert übrigens, dass unsere Bundesregierung dies nicht auf den Prüfstand stellen will. Möglicherweise liegt es daran, dass die Rüstungsgüter auch aus Deutschland kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt natürlich auch andersherum. Auch die Gläubiger müssen realistische Vorschläge machen. Wenn die Griechen schon diesen steinigen Weg gehen müssen, den übrigens auch andere Länder in der Europäischen Union gehen mussten, dann kann man ihnen nicht gleichzeitig noch die Schnürsenkel zusammenbinden. Griechenland muss nämlich beides können: auf der einen Seite den Haushalt ohne noch größere soziale Verwerfungen konsolidieren und auf der anderen Seite in die Zukunft investieren. Deswegen wäre es doch sehr klug, zu sagen: Wir machen ein Umschuldungsprogramm mit dem ESM. Dann geht nämlich beides. Dann können die Reformen erst einmal greifen. Dann gibt es auch neues Vertrauen in der griechischen Bevölkerung. Dann kann man auch weitere Reformen ansetzen, weil es wieder Sicherheit gibt, weil dann auch tatsächlich Investitionen gemacht werden können, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])

Ich bin fest überzeugt: Griechenland braucht eine realistische Chance. Investitionen – das kennen wir doch. Wir können doch nicht so tun, als ob wir nicht wissen, wie sich das damit verhält. Es ist sechs Jahre her, da hat die Große Koalition hier unter der Führung von Angela Merkel kein Problem damit gehabt, 10 Milliarden Euro für die Abwrackprämie und für das Kurzarbeitergeld lockerzumachen, um der Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen. Wenn Sie jetzt so tun, als sei unsere gute Konjunktur nur mit dem Sparschwein in der Hand gemacht worden, dann zeugt das von Arroganz und Geschichtsklitterung zugleich. Man muss eben beides machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ja, es geht um das europäische Projekt als Ganzes. Wir haben in der Tat noch andere große Herausforderungen. Wir haben die Flüchtlingsfrage. Es ist gut, dass Sie die Seenotrettung angesprochen haben. Das ist ein sehr wichtiger Teil. Ich hoffe übrigens auch, dass das nicht wieder aufhört, wenn die Scheinwerfer aus sind. Aber das wird natürlich nicht reichen. Wir haben hier die Helfer beklatscht, die Menschen gerettet haben. Aber gleichzeitig brauchen wir endlich eine realistische Lösung. Wir brauchen endlich sichere Wege nach Europa. Was wir bestimmt nicht brauchen, sind Auffanglager, weil sie nämlich weder ein rechtssicheres Verfahren gewährleisten noch dafür sorgen werden, dass weniger Flüchtlinge hierherkommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Christine Buchholz [DIE LINKE])

Das ist eine Chimäre und nichts anderes als eine Scheinlösung.

Ja, es ist und bleibt notwendig, dass Europa gegenüber Russland eine klare gemeinsame Haltung hat. Die europäische Außenpolitik muss sich eben darauf konzentrieren, dass friedliche Mittel funktionieren; wir dürfen nicht die militärische Option in den Vordergrund stellen.

Meine Damen und Herren, leider gibt es auch hierzulande nicht wenige, die bereit sind, europäische Werte für eine populistische Schlagzeile in die weiß-blaue Tonne zu treten. Die CSU muss endlich damit aufhören, auf Kosten von Flüchtlingen am rechten Rand Stimmen sammeln zu wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Wenn Herr Söder das Grundrecht auf Asyl in Lehrerstellen umrechnet, dann hat er unser Grundgesetz nicht verstanden. Sagen Sie ihm das bitte, und zwar in aller Klarheit, meine Damen und Herren!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa – ich wiederhole diesen Satz. Zur Wahrheit gehört auch: Europa ist nicht irgendwo in Brüssel; wir sind es selbst. Nach 50 Jahren wäre das zum ersten Mal weniger Europa statt mehr. Unabhängig von Mehrheiten und von Regierungen war eines in diesem Europa immer klar: Es war nie Verhandlungsmasse. Wir sollten es auch nicht dazu machen.

Europa war und ist Grundlage für Frieden, für unsere Freiheit und für unseren Wohlstand. Deswegen mein Appell am Schluss: Hören Sie auf mit dem Pokern! Hören Sie auf mit der Showdown-Politik! Machen Sie klar: Europa ist so stark wie seine Mitglieder, und zwar wie alle seine Mitglieder! Machen Sie das in Ihren eigenen Reihen klar! Machen Sie das in der CSU klar, machen Sie das in der CDU klar, und machen Sie das auch in der SPD klar! Europa funktioniert nicht, wenn man es in Gewinner und Verlierer spaltet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben jetzt die große Chance, für dieses gemeinsame Europa zu stehen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5263901
Wahlperiode 18
Sitzung 112
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum Europäischen Rat
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