Norbert Lammert - Regierungserklärung zum Europäischen Rat
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das heutige Finanzministertreffen in Luxemburg, ein denkbarer Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs am Wochenende, der reguläre Gipfel Ende der nächsten Woche und möglicherweise daraus resultierende Sondersitzungen auch der Ausschüsse und des Plenums des Bundestages zeigen deutlich auf: Die kommenden Tage sind entscheidend nicht nur für Griechenland, die kommenden Tage sind auch entscheidend für das Projekt Europa. Es geht um dieses einzigartige Projekt von Frieden, Freiheit und Solidarität, das uns seit mehr als 60 Jahren eint.
Da braucht eben nicht nur Griechenland Unterstützung; es braucht insgesamt eine tragfähige Lösung. Wir unterstützen Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Ihrem Ziel, Griechenland in der Euro-Zone zu halten. Dazu muss es aber auch nicht nur unsere Unterstützung geben, dazu müssen wir nicht nur Brücken bauen, sondern dazu muss sich eben auch die nicht mehr ganz so neue politische Führung Griechenlands zu ihrer Verantwortung bekennen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Völlig inakzeptabel sind verbale Attacken mit aggressiver Rhetorik und Verunglimpfungen der Akteure. Es ist zu hoffen, dass das irgendwie gearteter starker Tobak ist, der eigentlich für die Galerie, für den heimischen Gebrauch in Griechenland bestimmt ist. Es macht die Sache natürlich auch nicht wirklich besser, dass auch in unserem eigenen Hause gelegentlich grobschlächtige Äußerungen, die auf Kosten anderer die eigene Klientel befriedigen sollen, getan werden. Gleiche politische Mechanismen gibt es leider eben hier und auch anderenorts. Aber ich sage auch ganz eindeutig – man achte auf meine Blickrichtung –: Wir brauchen jetzt keine Pöbeleien, wir brauchen jetzt keine geschäftsordnungswidrigen Aktionen, sondern wir brauchen Besonnenheit und einen kühlen Kopf, um eine Lösung zu finden; denn zu viel steht auf dem Spiel.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es steht zu viel auf dem Spiel für Griechenland; denn eine Zahlungsunfähigkeit würde kaum übersehbare Folgen haben. Mindestens kurz- und mittelfristig wären die wirtschaftliche und die soziale Lage in Griechenland desolat. Es steht zu viel auf dem Spiel für die Geberländer selbst; denn sie wären von Zahlungsausfall betroffen. Das würde deutliche Einschläge in den Staatshaushalten hinterlassen. Es steht zu viel auf dem Spiel für die Zukunft der Europäischen Union; denn wenn sich an diesem Beispiel zeigt, dass Integrationsschritte umkehrbar sind, dann ist das ganze Projekt fundamental infrage gestellt.
Zugegeben: Die Krisenbewältigungsmechanismen der EU der letzten Jahre waren nicht ohne Fehler. Zu einseitig waren die austeritären Auflagen. Zu wenig wurden die Folgen für die ganz normale Bevölkerung, für Arbeitnehmer, für Arbeitslose und für Rentner, gesehen. Zu wenig wurden Programme für Wachstum und Beschäftigung begünstigt. Doch man muss eben auch zur Kenntnis nehmen, dass die neue Kommission unter Präsident Juncker und das Europäische Parlament mit seinem Präsidenten Martin Schulz in den letzten Monaten viele Brücken gebaut und viele Kompromisslösungen gesucht haben. Endlich sind Investitionen, sind Wachstum und Arbeitsplätze wieder ein Thema in Europa und gelten nicht als ein fernes Versprechen, sondern als Ergebnis einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik, die Angebot und Nachfrage im Blick hält.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die griechische Regierung darf diese Entwicklung nicht ignorieren. Was heute scheinbar selbstverständliche Gemeinplätze sind, war vor einem halben Jahr noch undenkbar. Es entsteht aber leider der Eindruck, dass es in Griechenland nicht mehr um die Sache, sondern nur noch ums Rechtbehalten geht. Ich aber glaube: Die Menschen in Griechenland, die Menschen, die betroffen sind, die fühlen, die erleiden müssen, wollen nicht recht behalten, sondern sie brauchen endlich eine Lösung. Wir müssen davon ausgehen, dass sie diese Aussicht auf Normalität, diese Aussicht auf Stabilität und diese Aussicht auf Lebenschancen für sich wollen. Noch können alle Beteiligten gestärkt aus der Herausforderung hervorgehen. Die kommenden Tage sind entscheidend für Griechenland und für seine Menschen, aber eben auch für das Projekt Europa.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres zentrales Thema des kommenden EU-Gipfels ist die Flüchtlingsfrage. Die Lösungen und die Lasten dürfen nicht nur wenigen Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Wir brauchen endlich einen umfassenden, einen ganzheitlichen Ansatz in der Flüchtlingsfrage. Die Mehrzahl der in der nächsten Woche anwesenden Staats- und Regierungschefs muss endlich ihre Verweigerungshaltung und ihre Ausflüchte aufgeben. Ich erhoffe mir von diesem Gipfel ein wirklich deutliches, klares Signal des Europäischen Rates für eine gemeinsame und für eine solidarische EU-Flüchtlingspolitik.
Im Rahmen einer umfassenden EU-Migrationspolitik müssen Krisenprävention, Konfliktbewältigung und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern anerkannt, aber endlich auch praktiziert werden. Wir brauchen einen solidarischen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge. Ich erwarte, dass die am 23. April 2015 auf dem Sondergipfel beschlossenen Maßnahmen nun auch endlich vorangetrieben werden.
Wir müssen uns alle in Europa unserer gemeinsamen Verantwortung stellen. Deshalb begrüße ich die Vorschläge der Kommission, Griechenland und Italien kurzfristig durch die Umsiedlung von Asylbewerbern zu entlasten. Richtig bleibt es aber auch, dass die Kommission eine grundsätzliche Diskussion über Alternativen zur Dublin-Verordnung angestoßen hat. Italien, Spanien, Malta und Griechenland werden mit ihrer Zuständigkeit nach Dublin klar überfordert.
Die Seenotrettung ist weiterhin konsequent erforderlich. Ich denke, an dieser Stelle ist es angezeigt, den Besatzungen der Schiffe, die derzeit im Mittelmeer operieren, einmal hohe Anerkennung für ihre dort geleistete Arbeit auszusprechen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich habe eben von diesen vier Ländern mit ihren Seegrenzen gesprochen. Wir müssen feststellen: Die Flüchtlinge wollen gar nicht unbedingt dorthin, sie wollen auch nicht unbedingt nach Deutschland, nach Österreich, nach Schweden – das sind die Staaten, die die größten Zahlen verzeichnen –; sie wollen nach Europa, und deshalb müssen wir in Europa gemeinsam handeln.
Dazu gilt es, Fluchtursachen zu beseitigen, legale und sichere Zugangswege zu schaffen und uns insgesamt in Europa mit Blick auf humanitäre Hilfe, Übergangshilfe vor Ort und gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit sehr viel mehr zu engagieren.
Herr Kollege.
Nur funktionierende, nur stabile Staaten und auskömmliche Lebenssituationen geben den Menschen sichere Lebensgrundlagen und können so die Entstehung von Flüchtlingsströmen verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, der kommende Gipfel ist entscheidend für eine Reihe von grundsätzlichen Fragen. Ich wünsche Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und Ihren Kolleginnen und Kollegen gute Entscheidungen, –
Herr Kollege.
– gute Entscheidungen für ein starkes, für ein solidarisches und für ein soziales Europa.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/5265814 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 112 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat |