01.07.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 114 / Zusatzpunkt 1

Anton HofreiterDIE GRÜNEN - Vereinbarte Debatte/ Griechenland

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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Union ist in Gefahr. Vor unseren Augen zerbricht so manche Gewissheit, die Gewissheit, dass in der EU niemand zurückgelassen wird, die Gewissheit, dass sich am Ende der kluge Kompromiss und nicht das rein innenpolitische Kalkül durchsetzt. Dieser Gewissheit hat Herr Tsipras schweren Schaden zugefügt. Aber dieser Gewissheit haben auch Sie, Frau Merkel, und Sie, Herr Gabriel, schweren Schaden zugefügt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn Sie alle stellen Ihr innenpolitisches Kalkül, Ihre innenpolitischen Interessen vor die gemeinsamen Interessen in Europa. Das ist das eigentliche Desaster, das wir in diesen Tagen erleben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was wir heute erleben, was wir wieder in der Rede von Frau Merkel erlebt haben und was wir bei Herrn Tsipras in den ganzen Tagen erlebt haben, ist: Sie drücken sich einfach um die Wahrheit herum. Herr Tsipras weiß doch selbst, dass Griechenland nicht ohne Strukturreformen aus seinen Schwierigkeiten herauskäme.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Warum tut er dann nichts?)

Selbst wenn im Moment in Griechenland Geld vom Himmel fallen würde, wären die Probleme doch nicht gelöst.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dann wären doch die Probleme der schwachen Steuerverwaltung, der dysfunktionalen Katasterämter, der ganzen Korruption nicht gelöst. Aber Tsipras scheut sich einfach, diese Wahrheit auszusprechen, weil er sich wegen seiner Unerfahrenheit in seinen Wahlversprechen und eben auch in Ideologie total verstrickt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wenn Sie, Frau Merkel, ehrlich zu den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wären,

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die ist immer ehrlich!)

dann würden Sie ihnen ganz offen sagen: Griechenland wird nicht die Sparauflagen einhalten und gleichzeitig die Schulden zurückzahlen können. Das wird nie klappen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das klappt sichtbar nicht. Genau deshalb brauchen wir endlich eine Umschuldung; denn nur mit einer Umschuldung hat Griechenland wenigstens eine Chance, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haben wir doch schon mal gemacht!)

Nur so haben wir die Chance, dass wir wenigstens einen Teil unserer Kredite wiedersehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, ziehen wir doch einmal eine Bilanz der letzten fünf Jahre Rettungspolitik.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sehr positiv! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Portugal auf einem guten Weg! Spanien gut! Zypern klasse!)

Sie haben davon gesprochen, dass wir eine Stabilitätsunion haben; Sie haben davon gesprochen, dass wir stärker aus der Krise herauskommen, als wir in die Krise hineingegangen sind. Wo ist denn das passiert? Seit 2008 ist Europa in der Krise. Wo ist denn Europa stärker geworden? Wo ist denn Stabilität vorhanden?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: In Irland! In Zypern! In Portugal! In Spanien!)

In Griechenland ist sicher keine Stabilität vorhanden. Aber auch wenn wir in den Rest Europas schauen, sehen wir: Rechtspopulismus nimmt zu, bei Flüchtlingen kann man sich noch nicht einmal auf Minimalkompromisse einigen. Wo ist denn Stabilität? Jahr für Jahr beobachten wir, dass die Situation in Europa schlimmer und komplizierter wird. Deswegen: Reden Sie doch nicht immer nur von Stabilität! In welcher Zukunft soll sie denn kommen? In einer ganz fernen Zukunft offensichtlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Auseinandersetzungen in Europa zwischen den Nationen haben massiv zu der Situation beigetragen. Das liegt an einer Ihrer Hauptstrategien, um die Krise zu lösen. Eine Ihrer Hauptstrategien, um die Krise zu lösen, war die Schwächung der europäischen Institutionen und die Rückverlagerung der Macht in die Hauptstädte. Der Effekt davon ist, dass wir inzwischen lauter nationale Regierungen haben, die nur noch für ihre nationalen Interessen kämpfen, und die europäischen Interessen, die gemeinsamen Interessen, kommen unter die Räder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber wir wissen doch: Alle europäischen Staaten, auch Deutschland, sind deutlich zu klein, um eine Chance zu haben, die globalen Herausforderungen zu bewältigen. Klimakrise, die Flüchtlingsfrage, auch die Finanzkrise – Deutschland ist zu klein, um all das alleine zu bewältigen. Deswegen bräuchten wir doch etwas anderes. Wir bräuchten stärkere europäische Institutionen, mehr Rechte für das Europäische Parlament und eine starke europäische Demokratie, aber nicht diese Hauptstadtdiplomatie und Gipfeldiplomatie, die einfach nur nerven und scheitern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schauen wir uns diese gescheiterte Strategie an. Ich hätte mir am heutigen Tag von Ihnen wirklich gewünscht, zu hören, welche Vorstellungen Sie entwickeln, wie es in Europa weitergehen soll. Wie soll Europa weiterentwickelt werden? Ich habe davon in Ihrer Rede nichts, aber auch gar nichts gehört.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nur wenige Sätze zu Ihrem Beitrag, Herr Gabriel: Ich frage mich manchmal wirklich, wie verzweifelt Sie oder die SPD sind, dass Sie so einen Redebeitrag halten müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Sven- Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ziemlich verzweifelt! – Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])

Wie getroffen und empfindlich Sie auf einen harmlosen Zwischenruf reagieren! Wissen Sie, ich kann es vielleicht verstehen. Sie haben nicht allen Rettungspaketen zugestimmt. Sie haben sich am Anfang, beim ersten Rettungspaket, noch vom Acker gemacht. Wenn Sie dann auf einen Zwischenruf von uns, die wir aus Solidarität immer an der Seite Griechenlands gestanden haben, so empfindlich reagieren, dann frage ich mich schon, was da wirklich los ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der SPD)

Noch ein paar Bemerkungen zu dem einen oder anderen Hitzkopf in den Koalitionsfraktionen, insbesondere in der Fraktion der CDU/CSU. Ich finde es, ehrlich gesagt, ziemlich atemberaubend, wie unbekümmert manche Leute von Ihnen über den Grexit reden, nämlich darüber, dass man Griechenland einfach aus der Euro-Zone schmeißen kann. Sie tun so, als ob ein Land verschwinden würde, nachdem es bankrottgegangen ist, und als ob die vorhandenen Probleme verschwinden würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Griechenland ist weiter ein europäisches Land, weiter NATO-Mitglied.

Ich kann verstehen, wenn der eine oder andere Bürger in unserem Land nach dem ganzen Rumgenerve sagt: Lieber ein Ende mit Schrecken. – Aber ein Grexit würde kein Ende mit Schrecken sein. Er wäre vielmehr ein Auftakt zu neuem Schrecken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie als verantwortliche Abgeordnete sollten es doch wissen.

Wenn Griechenland endgültig bankrott ist, wird man diesem Land selbstverständlich weiterhelfen müssen. Wenn Griechenland endgültig bankrott ist, werden die 80 Milliarden Euro langfristig komplett weg sein. Da kann man doch nicht einfach sagen: Ja, mein Gott, dann treten sie halt aus dem Euro-Raum aus. – Ich finde das absolut unverantwortlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Was wir jetzt statt Anstrengungen, den Grexit zu verhindern, erleben, ist ein Schwarzer-Peter-Spiel, so nach dem Motto: Ich bin es nicht gewesen, ganz allein die andere Seite war es. – Die andere Seite sagt: Nein, nein, wir haben damit nichts zu tun. Die andere Seite war ganz allein schuld. – Bei diesem armseligen Spiel gibt es doch am Ende eigentlich nur noch Verlierer. Verlierer ist auf jeden Fall die Politik, weil die Menschen das Spiel „Die waren es – nein, die waren es“ zu Recht für unwürdig halten.

Aber es gibt noch etwas anderes, was da unter die Räder kommt. Es kommt bei diesem Spiel zwischen nationalen Regierungen eigentlich die großartige Idee von Europa unter die Räder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Idee von Europa umfasst viele einzelne Punkte, etwa Frieden, freies Reisen und vieles andere. Die Idee von Europa ist im Kern, dass Europa mehr ist als die Summe der einzelnen Nationalstaaten. Diese Idee droht mit diesen nationalen Schuldzuweisungen komplett unter die Räder zu kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Egal ob Schäuble, Gabriel oder Merkel: Hören Sie einfach auf mit diesem Spiel!

Was wir jetzt brauchen, ist ein faires Abkommen für Griechenland, ein Abkommen, bei dem es um Verlässlichkeit geht, ein Abkommen, das dafür sorgt, dass die Menschen und die Investoren in Griechenland wieder Vertrauen und Mut schöpfen, dass langfristig Stabilität in Griechenland einzieht.

Eines der Hauptprobleme des geplanten Abkommens war doch seine Kurzfristigkeit. Was wäre selbst dann passiert, wenn es jetzt doch noch geschlossen worden wäre? Es hätte bis November dieses Jahres gegolten; das sind gerade einmal vier Monate. Nach nur vier Monaten hätten wir also denselben Zirkus, dieselbe Gipfeldiplomatie wieder erlebt. Herr Schäuble, Sie reden so gern von Verlässlichkeit: Dann lassen Sie uns doch ein Abkommen mit Griechenland treffen, das dem Motto folgt: Für die nächsten fünf Jahre ist Ruhe. Auf der anderen Seite bekommen die Griechen keine neuen Kredite,

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Keine Ahnung!)

sondern sie müssen mit dem vorhandenen Geld auskommen. – Wie sie dieses Geld ausgeben, wie sie ihre Probleme lösen, soll das griechische Parlament entscheiden. Wir sorgen dafür, dass die Kredite für Griechenland für fünf Jahre vom ESM übernommen werden. Dann herrscht Stabilität, und dann herrscht Verlässlichkeit. Wir können es uns in Europa nicht leisten, alle paar Monate diesen Zirkus aufzuführen, den wir hier inzwischen seit längerem erleben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für eine langfristige Lösung bräuchte es allerdings den Mut von allen Seiten. Es bräuchte Mut bei der griechischen Regierung; aber es bräuchte auch Mut bei der deutschen Regierung, nämlich den Mut, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Geben Sie sich einen Ruck, Herr Gabriel, Frau Merkel, und sorgen Sie endlich für eine Lösung; denn es steht für Europa und seine Menschen viel zu viel auf dem Spiel, als dass man sich diese nationalen Spielchen weiter leisten könnte.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nächster Redner ist der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5342672
Wahlperiode 18
Sitzung 114
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte/ Griechenland
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