17.07.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 117 / Tagesordnungspunkt 1

Sigmar GabrielSPD - Stabilitätshilfe zugunsten Griechenlands

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Gregor Gysi, wenn es doch bloß so einfach wäre!

(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Für Sie ist es doch immer einfach!)

Wenn es doch so schön klar wäre, was gut und böse, was richtig und falsch ist, und wenn man so schön die Wahrheit wegdiskutieren könnte, wie Sie das gemacht haben: Die EZB druckt das Geld; das Geld kommt nur von der EZB. – Dass die Deutschen und alle anderen Europäer dafür haften, könnte man als Erstes einmal dazusagen, finde ich.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat er doch gesagt! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Zuhören!)

Zweitens. Dass da kein Geld geflossen ist, sondern dass da Bürgschaften und Kredite gegeben worden sind, ist klar. Deswegen geht es aber darum, alles dafür zu tun, dass niemals Geld fließen muss, sondern dass das zurückgezahlt werden kann.

(Zuruf von der LINKEN: Dann tun Sie es doch!)

Das ist das Normalste der Welt, wenn man Kredite vergibt.

Drittens. Wenn Sie öffentlich erklären, dass alles so schlimm sei, insbesondere die Tatsache, dass über den Grexit diskutiert wird: Haben Sie das eigentlich einmal mit Herrn Lafontaine besprochen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Er hat doch in der Öffentlichkeit dafür plädiert, dass Griechenland aus dem Euro austritt. Ich finde, mit Ihrem ideologischen Vordenker sollten Sie auch einmal ein Gespräch führen, Herr Gysi.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir sind heute zusammengekommen, um über ein Verhandlungsmandat zu einem dritten Hilfsprogramm für Griechenland zu entscheiden. Für die Sozialdemokratische Partei kann ich sagen: Wir sagen Ja zur Aufnahme der Verhandlungen über dieses dritte Hilfspaket. Denn Europa hat – da hat die Bundeskanzlerin völlig recht – am letzten Wochenende eine Bewährungsprobe bestanden. Es ging am letzten Wochenende nicht nur um Griechenland, sondern auch darum, ob die Euro-Zone und damit ganz Europa sich spaltet, in Nord und Ost einerseits und Süd und West andererseits, sowie um unterschiedliche Auffassungen über den Umgang in Europa und in der Euro-Zone. Diese Spaltung hätte Europa in eine viel tiefere Krise geführt als nur in eine Finanzkrise. Das wäre womöglich der erste Schritt hin zur Zerstörung all dessen gewesen, was unsere Eltern und Großeltern nach zwei bitteren Weltkriegen in Europa aufgebaut haben. Deshalb sind wir Sozialdemokraten allen dankbar, die am letzten Wochenende mitgeholfen haben, dass Europa diese Bewährungsprobe besteht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Und es ist gut, dass dabei Deutschland und Frankreich gemeinsam und entschlossen die Führung übernommen haben. Ja, es gäbe diese Einigung nicht ohne Deutschland und Frankreich. Glauben Sie mir, ich weiß sehr genau, was da verabredet worden ist.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschland wollte doch den Grexit gar nicht verhindern! So war es doch, Herr Gabriel!)

– Nein, das ist nicht so.

Es ist übrigens auch gut für Deutschland, dass Frankreich dabei wieder eine europäische Führungsrolle eingenommen hat. Denn der Eindruck – ob berechtigt oder nicht –, dass allein Deutschland Europa führt, tut nicht nur Europa, sondern auch uns Deutschen nicht gut.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE] und Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

Für uns Sozialdemokraten war das von Anfang an die zentrale Bedingung für unsere Zustimmung zu jedwedem Verhandlungsergebnis: Deutschland und Frankreich müssen ihrer besonderen Verantwortung für Europa gerecht werden, zusammenstehen und trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen gemeinsam Europa zusammenhalten. Dafür, dass das gelungen ist, danken wir aufrichtig der deutschen Kanzlerin und dem französischen Präsidenten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Klar ist aber auch: Sosehr wir diese europäische Bewährungsprobe bestanden haben, so wenig sind damit allerdings alle über den Berg. Denn das Verhandlungsmandat ist für alle Seiten eine große Herausforderung, die durch die konkrete Umsetzung erst noch bestanden werden muss. Die größte Herausforderung stellt es für Griechenland und die Menschen dort dar. Denn das Land steckt nicht nur in einer tiefen Krise, sondern es muss sich dramatisch verändern, um aus dieser Krise herauszukommen.

Die Bedingungen für das dritte Hilfspaket sind hart; das sollten wir nicht verschweigen. Sie wären übrigens weitaus leichter gewesen, wenn die griechische Regierung vor wenigen Wochen nicht aus den Verhandlungen ausgestiegen wäre.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Trotzdem haben sich der griechische Ministerpräsident und das griechische Parlament entschieden, mitzuziehen. Sie haben sich entschlossen, die für das Land ebenso notwendigen wie schwierigen Reformen anzupacken.

Was immer man von der Politik der letzten Monate halten mag: Griechenland kämpft um seine Selbstbehauptung, es kämpft darum, in Europa geachtet zu werden, und es kämpft darum, endlich aus dem Status eines Almosenempfängers herauszukommen und selbst sein Schicksal zu bestimmen – als ein vollwertiges Mitglied des Euro-Raums.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dieser Kampf um seine Selbstbehauptung und wohl auch um seine Selbstachtung hat, finde ich, durchaus auch etwas Großartiges an sich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir alle sollten dafür Respekt empfinden und jetzt nicht mehr zurückblicken, sondern sagen: Die griechische Regierung hat sich jetzt klar für Hilfe zur Selbstbehauptung entschieden, statt dauerhaft Almosenempfänger zu werden. Dafür hat sie jetzt jede denkbare Hilfe und Unterstützung verdient. Wir sind Partner in der Umsetzung des Verhandlungsergebnisses und nicht Gegner, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für uns in Deutschland heißt das: Jede Debatte um einen Grexit muss der Vergangenheit angehören;

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

es darf kein Jammern und Klagen mehr geben über die Vergangenheit, keine Schuldzuweisungen, keine Vorwürfe und auch kein wiederkehrendes Spiel mit dem Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])

Am letzten Wochenende hat ein Neustart stattgefunden. Jetzt geht es nur noch um eines: Was wir gemeinsam mit Griechenland verabredet haben, das müssen wir jetzt zum Erfolg führen.

Der Verbleib Griechenlands im Euro wird noch viel Kraft, Konzentration und Kompromissbereitschaft von allen Beteiligten fordern. Aber dieses Paket enthält endlich auch Maßnahmen, die nicht nur darin bestehen, dem Land Sparauflagen zu diktieren. Seien wir ehrlich: Griechenland ist nicht durch eine Austeritätspolitik oder die Troika in seine katastrophale Finanzlage gekommen, wie manche behaupten;

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nein, gar nicht! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Durch die Banken!)

die Schulden in Griechenland waren nämlich vor den Hilfsprogrammen genauso hoch wie heute –

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

vorher, bevor es Austerität in Griechenland gegeben hat. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Austeritätspolitik der letzten Jahre, der permanente Sparzwang, hat die Schulden nicht verringert; vielmehr ist – im Gegenteil – die Schuldentragfähigkeit des Landes dadurch immer schlechter geworden, weil es fast völlig an Initiativen für Wachstum und Beschäftigung gefehlt hat. Außerdem hat die zum Teil ernüchternde Rettungspolitik in Griechenland zur Selbstblockade und zur demokratischen Blockade geführt, wobei die Ursachen für die Blockaden übrigens auf ein völlig unzureichendes politisch-administratives System zurückzuführen sind. Aus einer wirtschaftlichen ist so eine politische Verunsicherung geworden, die bis in den Kern Europas reicht.

Wir müssen uns ehrlich machen: Der Bundestag hat zwei Rettungsprogramme für Griechenland beschlossen, die beide nicht zum Erfolg geführt haben.

(Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU] – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das stimmt!)

Wir haben unterschätzt, wie groß die institutionellen Probleme Athens waren und wie hartnäckig ein blockiertes politisches System die wirtschaftliche Gesundung erschwert. Dabei hat der IWF bereits 2013 eine Analyse zu Griechenland veröffentlicht, die bemerkenswert ist. Die Experten haben darin zugegeben, die Tiefe und Dauer der Rezession sowie die Höhe der Arbeitslosigkeit unterschätzt zu haben. Daraus hat sich eine Abwärtsspirale ergeben: tiefe Rezession, hohe Verschuldung.

Der IWF hat übrigens auch geschrieben, dass die Lasten der Anpassung besser auf alle sozialen Schichten verteilt werden müssen. Folgt man diesen Punkten, dann braucht Griechenland, dann braucht auch Europa eine investitions- und wachstumsfreundliche Politik, die ebenso viel Wert auf soziale Fairness legt.

(Beifall bei der SPD)

Nur so – so der IWF – können wir erfolgreich sein. Wir teilen diese Überzeugung. Gerade deshalb ist es doch richtig, dass sich in Europa seit der Wahl von Jean- Claude Juncker zum EU-Kommissionspräsidenten endlich etwas an dieser Politik ändert. Gemeinsam mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, sind Wachstumsinitiativen in Europa entwickelt worden; denn auch in Portugal und in Spanien ist die Arbeitslosigkeit noch viel zu hoch.

Nur: Sparen alleine hilft nichts. Das wissen übrigens nicht nur Unternehmen; das wissen auch wir. Denn wir wären ja auch nicht durch die Finanzkrise gekommen, wenn wir nicht gleichzeitig investiert hätten, Konjunkturprogramme entwickelt hätten und vieles andere mehr.

(Beifall bei der SPD)

Aber Vorsicht! Es gibt einen großen Unterschied: nicht nur, weil wir vorher in Deutschland bereits Sozialreformen auf den Weg gebracht haben, sondern vor allen Dingen deshalb, weil wir ein Land sind, das Strukturen besitzt, in denen Wachstums- und Konjunkturprogramme auch tatsächlich funktionieren können. Und genau das, meine Damen und Herren, ist in Griechenland nicht der Fall.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Zur Wahrheit – das richtet sich insbesondere an all diejenigen, die sagen, wir brauchen mehr Wachstum und Investitionen in Wachstum – gehört eben auch: Das Land ist für Investitionsprogramme heute nicht ausreichend aufnahmefähig. Das weitgehende Fehlen von funktionierenden staatlichen Strukturen, das Vorherrschen von Korruption, Steuerhinterziehung und Klientelismus zerstört ja nicht nur die finanzielle Handlungsfähigkeit eines Staates, sondern macht ihn auch völlig unfähig, wirtschaftliches Wachstum zu fördern und soziale Sicherungssysteme aufzubauen. Das ist die Misere in Griechenland, meine sehr geehrten Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es hilft deshalb nicht, Griechenland nur Geld zur Verfügung zu stellen oder nur Schulden zu streichen. Vielmehr ist der Weg zur Hilfe für Griechenland über ein Hilfsprogramm, das an klare Bedingungen geknüpft ist, der richtige Weg. Denn im Kern geht es um die Veränderung der politischen Strukturen des gesamten Landes. Das Land endlich aus den Händen seiner alten verantwortungslosen Eliten in Wirtschaft und Politik zu befreien, ist etwas, was uns übrigens mit der Mehrheit der Menschen in Griechenland verbindet – und übrigens auch mit der neuen griechischen Regierung.

(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])

Europa und auch Deutschland müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dem alten System viel zu lange tatenlos zugeschaut zu haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Wegschauen rächt sich bitter – für die Menschen in Griechenland ebenso wie für den Rest der Euro-Zone. Das ist, wie ich finde, überhaupt eine Lehre aus der Krise: dass wir nicht so lange wegschauen dürfen, auch nicht, wenn die Verantwortlichen den politischen Familien deutscher Parteien angehören.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Das gilt für Finanzfragen, aber – ich wiederhole, was ich beim letzten Mal gesagt habe – das gilt auch für die demokratischen Werte Europas. Denken wir nur einmal an die Verletzung dieser Werte in Ungarn, an die Diskriminierung von Sinti und Roma oder an das Totalversagen der europäischen Flüchtlingspolitik. Wegschauen dürfen wir nicht, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt muss deshalb der Aufbau eines handlungsfähigen Staates in Griechenland im Mittelpunkt stehen. Dafür bedarf es noch mehr Hilfe, als im Verhandlungsergebnis des letzten Wochenendes festgeschrieben ist. Wir Sozialdemokraten wollen deswegen, dass bei den jetzt beginnenden Verhandlungen noch weitere Maßnahmen in das Verhandlungspaket aufgenommen werden.

Es ist Wolfgang Schäuble gewesen, der vorgeschlagen hat, 2 000 griechischen Beamten der Europäischen Kommission anzubieten, bei Weiterfinanzierung durch die Europäische Kommission, nach Griechenland zu gehen und dort beim Aufbau des Staates zu helfen. Dass die Europäische Kommission das vom Tisch wischt, ist nicht in Ordnung. Da sitzen Potenziale, die wir in Griechenland dringend brauchen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Uns fehlt im verhandelten Programm auch die gemeinsame Verpflichtung aller Euro-Staaten, auf Antrag der griechischen Regierung die Vermögenswerte griechischer Steuerflüchtlinge einzufrieren, die in den letzten Monaten und Jahren aus dem Land abgezogen worden sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die haben doch in Berlin, London, Paris und Amsterdam Häuser gekauft, und wir in Europa und in Deutschland dürfen nicht der Rückzugsraum für asoziale griechische Superreiche werden, die sich zu Hause ihrer Verantwortung entziehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Uns fehlen im Programm konkrete Aufträge zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme; denn es kann doch nicht sein, dass in einem Land die Existenz eines Rentners in der Familie am Ende das letzte soziale Sicherungssystem ist, weil in schwierigen Lebenslagen kein anderer überhaupt eine Absicherung erfährt.

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Und deswegen wollen Sie die Renten noch weiter kürzen, oder was?)

– Nein. Ich will, dass wir endlich ein soziales Sicherungssystem aufbauen. Das hat die letzte Regierung und das hat auch diese Regierung nicht in Angriff genommen. Das will ich in Europa, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Kipping [DIE LINKE]: Bei den Kürzungsauflagen?)

Wir haben heute aber nicht nur die Aufgabe, ein Verhandlungsmandat zu erteilen; wir haben auch die Aufgabe, unseren Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, klarzumachen, warum wir das wollen. Seien wir ehrlich: Es gibt eine riesige Skepsis in unserer Bevölkerung, ob wir das richtig machen.

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Verdrehung der Tatsachen! Dazu haben Sie ja viel beigetragen! Beim Griechenland-Bashing haben Sie fleißig mitgemacht!)

Wir alle wissen: Es fehlt vielfach Verständnis dafür, dass wir erneut milliardenschwere Hilfspakete nach Griechenland schicken. Worauf wir uns aber bei unserer Bevölkerung, glaube ich, verlassen können, ist ihre große Mitmenschlichkeit. Deutschland ist ein starkes, aber eben auch ein mitfühlendes Land.

Ich glaube und finde, dass das wichtigste Argument für unseren Weg nicht ist, dass wir Deutsche bei einem Grexit noch viel mehr Geld verlieren würden – das ist nicht das wichtigste Argument dafür, dass wir einen anderen Weg gehen –, sondern das wichtigste Argument ist, dass Europa keine Idee ist, bei der man immer nur danach entscheidet, wo man am wenigsten zahlen muss oder am leichtesten Beute machen kann.

(Beifall bei der SPD)

Europa ist im Kern eine Idee vom Zusammenleben der Menschen, von Freiheit und Verantwortung und von Mitmenschlichkeit.

Das wichtigste Argument für die Bereitschaft, ein drittes Hilfspaket zu schnüren, ist unsere Mitmenschlichkeit. Die Menschen in Griechenland sind unsere Nachbarn. Wir fahren nach Griechenland in Urlaub. Tausende Griechen leben bei uns in Deutschland. Wir können und dürfen die Menschen in Griechenland nicht im Stich lassen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU] – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist ja zynisch!)

Wir wollen nicht hungernde Kinder, bettelnde Rentner und Suppenküchen in Europa. Ich bin sicher, dass die allermeisten Menschen in Deutschland das auch nicht wollen, wir deshalb auf ihre Mitmenschlichkeit bauen können und damit das beste Argument für das dritte Hilfspaket für Griechenland vor uns liegen haben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU])

Auch wenn wir jetzt wieder Kredite und Bürgschaften vergeben: In Deutschland wird dadurch kein Kindergarten weniger gebaut, keine Straße weniger saniert und keine soziale oder kulturelle Einrichtung weniger gefördert. Aber wenn Europa nicht zusammenhielte, wenn Europa auseinanderfiele, wenn wir die Ersten verstießen, wenn die Währungsunion instabil würde, dann wären allerdings auch der Wohlstand und die soziale Sicherheit in Deutschland bedroht. Bei einem hat Gregor Gysi nämlich recht: Deutschland ist nicht der Lastesel der Europäischen Union, der immer alles zu tragen hat, sondern wir sind die politischen, die kulturellen, die sozialen, aber auch die wirtschaftlichen Gewinner der europäischen Einigung. Wenn wir jetzt in Europa investieren, zahlen wir einen Teil dessen zurück, was wir seit Jahrzehnten aus Europa bekommen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Manchmal übrigens hilft ein Blick von außen. Ich bin vorletzte Nacht aus China zurückgekehrt. Von dort aus gesehen ist klar, dass Europa bei allen nationalen Unterschieden vor allen Dingen eines teilt: viele gemeinsame Werte, die uns immer noch stark und anziehend machen. Diese Stärke, diese Kraft der Erneuerung und seine Attraktionen sind es übrigens, die Europa bis heute für unzählige Menschen zu einem Sehnsuchtskontinent machen. Klarer sieht man aus dem großen China aber auch: Europa wird sich im 21. Jahrhundert nur dann in der Welt behaupten können, wenn wir zusammenhalten.

Sosehr wir uns gelegentlich über unsere wirtschaftlichen Erfolge in Deutschland freuen: Als 80-Millionen- Einwohner-Land machen wir schon heute nur noch 1 Prozent der Weltbevölkerung aus – mit abnehmender Tendenz. Wenn ein Land von Europa profitiert, dann war und ist das unser Land. Aber vor allen Dingen müssen wir wissen: Selbst Deutschland wird in der Welt des 21. Jahrhunderts nur noch eine Stimme haben, wenn es eine europäische Stimme wird, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn wir mit unseren Bürgerinnen und Bürgern reden und um Verständnis werben, können wir auf diese beiden Dinge bauen: auf die Mitmenschlichkeit in Deutschland und auf ein sehr ausgeprägtes europäisches Bewusstsein. Ich glaube, dass wir sogar noch denkbare Hilfsinitiativen aus unserem eigenen Land hinzufügen können. Dort, wo Städtepartnerschaften bestehen, bitten wir die Kommunen, zu überlegen, was sie an Hilfe anbieten können. Wir bitten die Wohlfahrtsverbände, mit ihren griechischen Partnern gemeinsame Projekte zu starten. Und wir rufen die deutschen Unternehmen auf, bei Ausbildung, Qualifizierung und auch bei Investitionen in Griechenland mitzuhelfen. Ich finde, wir sollten in diesem Haus auch prüfen, ob wir solche Hilfen von Städten, von Wohlfahrtsverbänden und von Unternehmen nicht auch begleiten und sogar finanziell fördern können.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind ein starkes Land. Setzen wir diese Stärke jetzt ein, nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Europa! Es lohnt sich für uns alle.

Die Krise der letzten Jahre auf unserem Kontinent hat wesentliche Schwachstellen der europäischen Architektur aufgezeigt. Die Entwicklung in Europa droht sich nach 60 Jahren zum ersten Mal umzukehren. Europafeindliche, rechtspopulistische Parteien sitzen nicht nur in unseren Parlamenten, sondern sogar auch in den Regierungen. Wir müssen in den nächsten Monaten und Jahren viel dazu beitragen, diesen verhängnisvollen Entwicklungen Einhalt zu gebieten. Griechenland ist hierbei vielleicht sogar die kleinste Aufgabe gewesen. Größer noch als die Bewährungsprobe in Griechenland ist die humane Bewältigung der Flüchtlingsströme zu uns. Da droht Europa etwas zu verlieren, was viel wichtiger ist als Geld, nämlich seine eigene humane Orientierung. Das ist von riesiger Bedeutung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Wir werden in der Ukraine helfen müssen. Immer wieder wird es um Geld gehen. Es wird immer wieder um die Frage gehen: Wo bekommen wir das Geld her? Deswegen sage ich Ihnen: Wir müssen jetzt Ernst machen; denn es kann doch nicht sein, dass wir auf der einen Seite kein Geld für Hilfsprogramme haben, kein Geld dafür haben, Flüchtlinge aufzunehmen, kein Geld, um in Ländern wie der Ukraine, Griechenland und anderen zu investieren, und dass sich auf der anderen Seite milliardenschwere Unternehmen dem Steuerzahlen in Europa entziehen können,

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU])

dass sie ihrer Verantwortung nicht nachkommen und das Geld dem Steuerzahler nicht zur Verfügung stellen. Jeder Bäckermeister in Berlin zahlt höhere Steuersätze als Konzerne wie Google, Amazon, Starbucks und andere.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)

– Nicht höhere Steuern, aber höhere Steuersätze.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschland ist da einer der Hauptbremser!)

Die Europäische Kommission hat die Zahlen veröffentlicht: Damit gehen Europa jährlich 1,5 Billionen Euro verloren, 150 Milliarden Euro allein in unserem Land. Deswegen sage ich Ihnen: Wenn wir es ernst meinen mit der Verantwortung für Europa, dann werden wir dafür sorgen müssen, dass das ein Ende hat.

(Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Ich weiß gar nicht, ob Sie, außer Zwischenrufe zu machen, gelegentlich verfolgen, was Wolfgang Schäuble so versucht. Bei G 20 hat er das durchgesetzt, bei Europa versucht er das: Es geht um eine gemeinsame Unternehmensbesteuerung in Europa, um die Abschaffung von Patentboxen und anderes.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie müssen versuchen, ein paar Ihrer Feindbilder abzubauen. Die Gegner der Finanztransaktionsteuer sitzen nicht in Deutschland, sondern in vielen anderen europäischen Ländern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Reden Sie einmal mit den Mitgliedern Ihrer eigenen Parteifamilie darüber, anstatt andere hier im Deutschen Bundestag dafür verantwortlich zu machen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich weiß nicht, ob es uns wirklich weiterhilft, im Bundestag so zu tun, als ob immer nur Deutschland alles falsch macht.

(Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

Gibt es nicht noch ein paar andere Möglichkeiten? Ihrer Reaktion – Beifall, Gelächter und höhnischen Bemerkungen – entnehme ich, dass Sie anscheinend der gleichen Meinung sind. Sie scheinen auch der Meinung zu sein, dass man Finanzmärkte besteuern muss; Sie scheinen auch der Meinung zu sein, dass man Patentboxen schließen muss. Das scheint so zu sein. Ich sage Ihnen: Es ist nicht so, wie Sie behaupten, dass wir das verhindern. Tatsache ist, dass wir diese Themen in Europa nicht gemeinschaftlich angehen. Ich finde, auch diesbezüglich müssen Deutschland und Frankreich wieder eine Führungsrolle übernehmen. Das ist das, was wir brauchen, damit wir auch dieses Problem endlich in den Griff bekommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei der CDU/CSU)

Katrin Göring-Eckardt hat nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5437691
Wahlperiode 18
Sitzung 117
Tagesordnungspunkt Stabilitätshilfe zugunsten Griechenlands
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