19.08.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 118 / Tagesordnungspunkt 1

Norbert Lammert - Regierungserklärung Stabilitätshilfe für Griechenland

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In diesen Tagen haben viele von uns zahlreiche wütende, teils aufgebrachte E-Mails oder Briefe von Bürgerinnen und Bürgern anlässlich unserer heutigen Debatte erreicht. Es war immer der gleiche Tenor: Griechenland sei ein Fass ohne Boden, in dem die europäischen Gelder seit Jahren wirkungslos versickerten.

(Beifall des Abg. Klaus-Peter Willsch [CDU/ CSU])

Dieses beliebte Sprachbild von all denen, die weitere Hilfen für Griechenland ablehnen, ist schlichtweg falsch. Es zeigt aber eines: Es gibt eine hohe Verunsicherung und einen großen Vertrauensverlust auf allen Seiten. Richtig bleibt aber, dass Griechenland in den nächsten drei Jahren bis zu 86 Milliarden Euro an ESM-Finanzhilfen erhalten soll. Dieses Geld versickert aber keineswegs im Nirgendwo, sondern es fließt in ein ambitioniertes Reform- und Sparprogramm.

Das uns heute zur Bewertung vorgelegte MoU enthält erstmals ein sozialverträgliches Reformpaket, verbunden mit einem engmaschigen Korsett aus Konditionen und Überprüfungsmechanismen. Es ist das klarste, es ist das realistischste Programm der letzten Jahre.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es bietet nun endlich die Chance, Griechenland zu modernisieren. Es bietet die Chance, eine leistungsfähige Verwaltung aufzubauen, eine leistungsfähige Rentenversicherung aufzubauen, eine leistungsfähige soziale Sicherung aufzubauen, eine leistungsfähige Gesundheitsvorsorge aufzubauen, und es gibt dem Land die Chance, sich zu befähigen, sich selbst – mit der Unterstützung durch EU-Investitionsprogramme – wieder auf den Pfad von Wachstum und Beschäftigung zu führen. Es bietet aber auch die Chance, die schlimmsten sozialen Verwerfungen der letzten Jahre umzukehren oder zumindest deutlich zu lindern.

Es bietet die Chance auf Wachstum in Griechenland, und das ist es, was das Land braucht. Ohne wirtschaftliche Entwicklung, ohne Wachstum ist jede Schuldentragfähigkeitsdiskussion hinfällig.

Es gilt jetzt, diese Chancen zu nutzen. Das gilt für die Menschen in Griechenland, aber auch für Europa. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, werde ich diesem Programm zustimmen. Es muss endlich Schluss sein mit der unsäglichen Grexit-Debatte, die insbesondere das Vertrauen zwischen allen Verhandlungspartnern nachhaltig gestört hat, die aber auch zur Verunsicherung in der Öffentlichkeit und zu diesen E-Mails und Briefen geführt hat.

Meine Überzeugung ist, dass wir gut daran tun, europapolitisch Konsequenzen aus diesem Vorgang zu ziehen. Deutschland darf keine Zweifel mehr aufkommen lassen, dass die europäische Integration, ihre Wahrung und Vertiefung, nicht nur Staatsziel ist, sondern immer und überall auch Grundlage unseres Handelns ist und bleiben muss.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen die Zweifel an der Zuverlässigkeit, die zum Teil der EU entgegengebracht werden, ernst nehmen. Wir müssen durch konsequente Weiterentwicklung diese Zweifel entkräften. Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, bedarf es einer Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie die Wirtschaftsminister Deutschlands und Frankreichs, Gabriel und Macron, und sehr ähnlich auch die Präsidenten der fünf EU-Institutionen beschrieben haben. Auf Dauer bedarf es eben auch eines echten europäischen Währungsfonds, der hinreichend stark ist, europäische Probleme abschließend auch in Europa zu lösen.

(Beifall bei der SPD)

Auch wenn wir für die heutige Debatte unseren Urlaub unterbrechen mussten, bin ich froh, dass wir heute in dieser Sondersitzung über das dritte Rettungspaket debattieren. Dass es jetzt zu einem schnellen und positiven Ergebnis gekommen ist, war keineswegs selbstverständlich. Die EU-Institutionen und die griechische Regierung haben in den letzten Wochen ruhig, besonnen, mit hoher Kompetenz und sehr erfolgsorientiert verhandelt. Das ist zum Erfolg geworden. Es zeigt aber auch, dass Europa nur durch solidarisches und geschlossenes Handeln die aktuelle Krise bewältigen kann. Dieser Weg wird kein leichter sein. Griechenland steht vor einer großen Herausforderung, die Reformen eben nicht nur als Gesetze durch das Parlament zu bringen, sondern sie tatsächlich auch umzusetzen.

In dem Zusammenhang, Frau Lötzsch: Natürlich war es ein zentrales Wahlversprechen von Herrn Tsipras, Steuern einzutreiben. Warum haben sie es denn nicht gemacht?

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)

Sie hatten doch sechs Monate lang Zeit dazu.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sie wissen doch genau, dass das unterbunden wurde!)

Nun aber sollten wir auch einmal expressis verbis anerkennen, dass das griechische Parlament bereits 40 der im MoU vereinbarten Maßnahmen beschlossen hat. Die übrigen 17 sollen bis zum Oktober verabschiedet werden. Es braucht einen langen Atem, bis sich die neue Handschrift im MoU, die auch eine soziale ist, in der Realität durchsetzt.

Es zeigt sich aber auch, dass die griechische Regierung Vertrauen schaffen und die positive Dynamik für sich nutzen muss – gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber Europa. Griechenland muss neue Strukturen schaffen, muss dabei Misstrauen aufgeben und Unterstützungsangebote annehmen. Investitionsmittel aus dem MFR und aus dem Juncker-Plan müssen sinnvoll genutzt werden, und die Wirtschaft in Griechenland muss angekurbelt werden, weg ausschließlich vom Import hin zu einer exportorientierten Wirtschaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb komme ich zu dem Fazit: Das Bild von Griechenland als Fass ohne Boden taugt nicht dazu, die Situation zutreffend zu beschreiben. Griechenland wird in den kommenden Jahren harte und tiefe Einschnitte in seinen Strukturen und bei seiner Verwaltung vornehmen müssen, um das ambitionierte Reformkonzept umzusetzen und soziale und wirtschaftliche Stabilität zu erreichen. Am Ende gilt aber dann trotzdem: Manchmal braucht es eben einen langen Atem, um angestrebte Ziele zu erreichen, oder – um im Bild zu bleiben –: Das Fass hat einen Boden in einem solidarischen, in einem sozialen Europa.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Manuel Sarrazin ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

(Johannes Kahrs [SPD]: Jetzt dürfen die Grünen klatschen!)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5631400
Wahlperiode 18
Sitzung 118
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung Stabilitätshilfe für Griechenland
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