09.09.2015 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 120 / Einzelplan 04

Katrin Göring-EckardtDIE GRÜNEN - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Bevor ich auf die Flüchtlinge in unserem Land und in Europa und ihre Situation zu sprechen komme, will ich gern auf zwei Dinge eingehen, Frau Bundeskanzlerin, die Sie hier in Ihrem Rechenschaftsbericht erwähnt haben und die vielleicht wenigstens eines Faktenchecks bedürfen.

Der erste Punkt. Sie haben gesagt, die Bundesregierung hätte einen Schwerpunkt auf Investitionen gelegt. Wir haben in der Tat einen gigantischen Investitionsstau in unserem Land. Schienen, Straßen, Brücken, Schulen und vieles andere liegen im Argen. Diese Last wird vor allen Dingen von den Kommunen und Ländern getragen. Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich Ihren Haushalt anschauen und wenn Sie sich die mittelfristige Finanzplanung anschauen, dann sehen Sie: Investitionsquote unter 10 Prozent mit sinkender Tendenz bis 2019. Sie sollten hier ehrlich sein, Frau Bundeskanzlerin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der zweite Punkt. Sie haben sich in einem Nebensatz regelrecht verraten, indem Sie gesagt haben, TTIP wäre jetzt in diesem Haus nicht das Thema.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Den Eindruck haben wir auch. Die Unterlagen zu den Verhandlungen zum Freihandelsabkommen sind nämlich keinem einzigen Bundestagsabgeordneten zugänglich. Aber 139 Personen können diese Unterlagen im Auftrag der Bundesregierung in der amerikanischen Botschaft einsehen. Das verstehe ich nicht unter Parlamentarismus, und das verstehe ich nicht unter Transparenz. Dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn die Leute dagegen auf die Straße gehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir erleben in Deutschland derzeit ein echtes Septembermärchen: Am Münchner Hauptbahnhof, in Dortmund, in Saalfeld

(Ulli Nissen [SPD]: In Frankfurt!)

Und auch in vielen anderen Orten stehen Menschen an den Bahnsteigen mit Essen und Trinken, mit Rat und Tat. Wir sind plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe. „ Die Welt zu Gast bei Freunden“ – das bekommt plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Und ich kann zum ersten Mal sagen, dass ich uneingeschränkt stolz auf mein Land bin, wären da nicht schon wieder Unterkünfte angezündet worden. Doch die Nazis sind in der Minderheit, und sie bleiben es auch.

Was mich bewegt, ist der Ruck, der durch die Zivilgesellschaft geht. Es gibt Menschen, die bei der Bereitstellung von Unterkünften anpacken und Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen – wie unser Kollege Martin Patzelt. Sie bringen ihnen Deutsch bei, vermitteln sie in Arbeit und binden sich sogar lebenslang mit Bürgschaften. Sie zeigen, dass Deutschland ein starkes und funktionsfähiges Land ist. Davon, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie die ganze Zeit geredet; aber eigentlich müssten diese Menschen Sie auch beschämen. Denn ohne die tausendfache Hilfe, die gerade landauf, landab geleistet wird, wären wir nicht in der Lage, die Flüchtlinge angemessen zu versorgen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])

Sie bemühen sich hier, den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie alles im Griff, als würde der Innenminister einen guten Job machen, als hätten die Koalitionspartner an diesem Wochenende weitreichende Beschlüsse gefasst, als könnten Sie die Defizite im Umgang mit den Flüchtlingen sozusagen „wegmerkeln“. Doch Sie stecken in einem echten Dilemma und in einer Politikkrise. Anders kann man es nicht bezeichnen.

Frau Bundeskanzlerin, Sie waren vor Heidenau kein einziges Mal in einer Flüchtlingsunterkunft. Ich gebe zu, ich konnte es gar nicht glauben, dass Sie bis dahin einen Bogen um die Schicksale derer gemacht haben, deren Verwandte im Mittelmeer ertrunken sind, deren Geschwister in Aleppo sitzen und am Telefon Schüsse hören.

Sie haben, als Sie in der Schweiz diskutierten, spät, sehr spät, aber dann die richtigen Worte gefunden – auch zum Islam in unserem Land und zum Christentum. Viele sehen das Filmchen jetzt im Internet. Sie haben letzte Woche Worte gefunden und am Wochenende auch deutlich gemacht: Wir sind aufnahmebereit. Als ich Sie heute hier gehört habe, habe ich gedacht, dass Sie schon wieder im Verwaltungsmodus sind. Jetzt müssen aber Taten folgen, deutsche Flexibilität, ja, aber noch viel wichtiger deutsche Schnelligkeit. Es kann nicht sein, dass jetzt wieder Wochen verstreichen, bis verhandelt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])

Packen Sie bitte in die Konzepte für morgen nicht schon wieder die Rezepte von gestern: Sachleistungen in Erstaufnahmeeinrichtungen. Ja, sollen denn demnächst tatsächlich Drogeriegutscheine, Fahrkarten oder Zigaretten als Sachleistung ausgegeben werden? Haben die Helfer denn wirklich nichts anderes zu tun, meine Damen und Herren?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt: Wir stehen vor einem Problem von der Dimension der deutschen Einheit. Da gebe ich Ihnen auch recht. Deshalb dürfen wir aber die Fehler von damals nicht wiederholen. Der Osten besteht heute nicht nur aus blühenden Landschaften, und es hat auch mehr als ein paar Pfennige gekostet. Genauso wenig lässt sich die Flüchtlingshilfe jetzt mit einer Einmalzahlung von 3 Milliarden Euro an die Länder irgendwie begleichen. Das ist eine wirklich große Aufgabe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist nicht einfach. Zu uns kommen Menschen, die einen Bürgerkrieg, Diktatur und Verfolgung erlebt haben, Menschen aus anderen Kulturen, mit einem viel strengeren Religionsverständnis, mit Vorstellungen zu Gleichstellung und Homosexualität, die nicht die unsrigen sind. Heute geht es darum, winterfeste Quartiere zu organisieren, aber morgen schon darum, zu vermitteln, was unser Grundgesetz ausmacht. Ja, wir werden auch über unsere Werte, über unsere Identität diskutieren müssen. Und wir werden klarmachen müssen: Unsere Gesetze gelten in diesem Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Integration, das geht nicht per Koalitionsbeschluss an einem Wochenende. Deutschland funktioniert auch nicht nach dem Motto „Alte Bundesrepublik, neue Bundesländer und Flüchtlinge – und das war’s dann“. Unser Land wird sich verändern, und es hat sich schon verändert. Heute haben bereits 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund, und dabei habe ich die „Ossis“ noch nicht mitgerechnet.

Welche Aufmerksamkeit, welche Energie und welche Ressourcen lassen wir denen zukommen, die heute schon in unserer Gesellschaft chancenlos sind? Auch diese Frage müssen Sie beantworten. An den Langzeitarbeitslosen in unserem Land droht der Zug der Koalitionsbeschlüsse nämlich gänzlich vorbeizuziehen. Ich halte das für unverantwortlich mit Blick auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel und die Koalition, Sie haben ein Sofortprogramm vorgelegt. Aber das reicht nicht. Bei Migration und Integration geht es um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deswegen brauchen wir mehr: Wir brauchen einen nationalen Flüchtlingspakt. Setzen Sie sich mit allen zusammen, die Verantwortung haben und übernehmen: mit den Ländern, den Kommunen, den Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und den Arbeitgebern! Es muss jetzt um die Frage gehen, wie Deutschland in 20 Jahren aussieht und was unsere Identität ausmacht, statt darum, zu verwalten und zu „merkeln“.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])

Warum – diese Frage muss ich stellen, weil ich finde, aus der Vergangenheit zu lernen, kann auch einen Erfolg für die Zukunft bedeuten – sind wir jetzt in diesem Krisenmodus? Wegen der 800 000 Menschen, die dieses Jahr zu uns kommen sollen, wie der Innenminister prognostiziert? Vermutlich werden es mehr sein, wie Hannelore Kraft zu Recht sagt. Ja, aber diese Menschen sind schon lange unterwegs. Nur ist das der Bundesregierung nicht aufgefallen.

Ich greife willkürlich ein Jahr heraus: 2008 verzeichnete Deutschland 28 000 Anträge auf Asyl. So viele kommen derzeit in drei Tagen zu uns. Für 2008 meldete der UNHCR 42 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Heute sind es 60 Millionen. Sie hätten es sehen können.

Frau Bundeskanzlerin, die Flüchtlings politik ist in der Krise. Aber Sie haben den Grund dafür bisher nicht benannt. Deswegen will ich das tun: Das deutsche Sankt-Florians-Prinzip ist in sich zusammengebrochen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Prinzip, Flüchtlinge sollten möglichst weit weg von Deutschland bleiben, am besten in den Herkunftsländern, deren Nachbarländern oder jedenfalls in den Staaten der EU-Außengrenzen, ist wie ein Dominospiel zusammengeklappt.

Bevor Deutschland in die Krise kam, haben wir andere Staaten in dieselbe geschickt. Im Libanon ist heute jeder vierte Einwohner ein Flüchtling. In der Türkei leben fast 2 Millionen Flüchtlinge. Als Sie mit Herrn Erdogan geredet haben, Frau Merkel, haben Sie, hoffe ich, auch etwas zum Umgang mit der Halkların Demokratik Partisi (HDP) und den Kurden gerade in diesem Land gesagt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Bei uns wird ein Flüchtling auf 100 Einwohner kommen. Wie lange konnte dieses Ungleichgewicht noch weitergehen? Dieser Dominostein kippte als erster. Im letzten Jahr kamen schon 170 000 Flüchtlinge nach Italien und 43 500 nach Griechenland. Das war ein Anstieg um 280 Prozent. Jedem kritischen Beobachter war klar: Hier bahnte sich ein Kollaps an, und das europäische und deutsche Asylsystem kann nicht mehr funktionieren. Hier kippte der nächste Dominostein.

Ich will daran erinnern, was die Antworten des Innenministers waren: mehr Frontex, mehr scheinbar sichere Herkunftsstaaten und eine tödliche lange Zeit keine Unterstützung der italienischen Marine bei Mare ­Nostrum und der Seenotrettung. Es mussten erst an einem Wochenende 1 000 Menschen ertrinken, bevor die Bundesregierung bereit war, Schiffe und Bundesmarine zu mobilisieren. Das war beschämend. Daran muss erinnert werden, damit es nie wieder passiert, auch wenn die Bilder von den ersten Seiten der Zeitungen verschwinden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])

In dieser Zeit wurde übrigens auch nicht über gerechte Verteilung innerhalb Europas diskutiert. Ich will Sie nur daran erinnern: 2013 konnte man sich nicht einigen, ob man in Deutschland nun 5 000 oder 10 000 Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt. Wer heute mit dem Finger auf andere Länder zeigt, darf sich zumindest daran erinnern.

Hat sich eigentlich das Bundesinnenministerium jemals gefragt, was passiert, wenn dieser Asylschutzschirm zusammenbricht, den Sie über Deutschland gespannt hatten? Wie haben Sie die Länder und Kommunen in der Vorbereitung unterstützt? Welche Krisenpläne hatte das BMI eigentlich ausgearbeitet? Die Antwort ist ein vielfaches Nichts. Stattdessen hat Deutschland gerade einmal so viele Entscheider für Asylverfahren wie die Niederlande: 500. 250 000 Anträge liegen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Hinter jedem dieser Anträge steht ein Mensch, der nicht weiß, was die Zukunft für ihn bringt. Dieses Versagen von Verwaltung, diese Langsamkeit und dieses Sich-nicht-darum-Kümmern, dass Menschen dort eingestellt oder dahin versetzt werden – das müssen Sie sich sagen lassen, Herr Innenminister –, hat diese Krise, in der wir sind, und die Schwierigkeiten, in denen die Länder und Kommunen jetzt sind, verstärkt herbeigeführt.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist doch Quatsch!)

Wenn Sie jetzt nicht umkehren und nicht ganz schnell dafür sorgen, dass Hunderte zusätzliche Entscheider beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Bearbeitung der Anträge eingestellt werden, dann werden wir in eine zunehmend schwierigere Situation kommen. Das wird dann auf dem Rücken der Flüchtlinge sowie der Kommunen und Länder ausgetragen. Das geht so nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])

Es geht um Flexibilität, wie die Bundeskanzlerin gesagt hat. Ja, ich bin dafür. Ich bin dafür, Standards abzusenken, wenn es um den Bau von Quartieren geht. Das ist nun einmal so in dieser Situation, auch wenn uns das nicht gefällt und das nicht von Dauer sein darf. Bund und Länder sollen nun 3 Milliarden Euro bekommen. Wofür soll das eigentlich reichen? Mit welchen Flüchtlingszahlen rechnet man? Soll dieser Betrag für 150 000 Flüchtlinge, für 300 000 Flüchtlinge, von denen wir zu Beginn dieses Jahres ausgingen, oder für 800 000 bzw. 1 Million Flüchtlinge, von denen andere ausgehen, reichen? Was wir jetzt brauchen, ist Verlässlichkeit. Die Kommunen müssen wissen, welchen Betrag pro Flüchtling sie erhalten und dass sie diesen Betrag vom Bund auf jeden Fall bekommen, egal wie viele Flüchtlinge kommen; darauf kommt es jetzt an. Es darf kein Geschenk geben, nur weil alle wieder einmal laut schreien. Wichtig ist Verlässlichkeit. Diese kann man von der Bundesregierung erwarten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben die Entwicklungen in Europa und die außenpolitische Situation angesprochen. Aber es kann doch nicht sein, dass wir noch immer keine sicheren Wege nach Europa haben. Es kann doch nicht sein, dass man noch immer einem Schlepper 1 000 oder sogar 4 000 Euro zahlen muss, obwohl ein Flug von Bodrum nach Berlin nur 77 Euro kostet. Schlepperbekämpfung betreibt man am besten mit sicheren Wegen. Das macht man nicht, indem man nur so tut, als würde man Schlepper bekämpfen, aber letztendlich „Schiffe versenken“ spielt. Schlepper bekämpft man, indem man sichere Wege nach Europa schafft und diesem Unwesen endlich ein Ende setzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ich will noch ein Wort zu den sogenannten Anreizen und zur CSU sagen, die von dieser fixen Idee nicht lassen will. Ob nun Zäune errichtet werden, Gutscheine eingesetzt werden oder abgelehnte Asylbewerber schlechter behandelt werden – ich glaube übrigens, dass dieser Vorschlag verfassungswidrig ist –, all das ist den Kriegs- und Armutsflüchtlingen keinen einzigen Gedanken wert. Wenn Horst Seehofer einmal mit den Flüchtlingen in den Erstunterkünften gesprochen hätte, wüsste er das. Angesichts der Äußerungen der CSU am Wochenende habe ich mich gefragt: Warum steht der bayerische Ministerpräsident eigentlich nicht am Hauptbahnhof in München? Gibt es momentan wichtigere Aufgaben als das?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Herr Steinmeier, im April letzten Jahres – ich habe das extra nachgeschaut – haben wir Sie auf den Schwarzhandel mit Visa in Beirut aufmerksam gemacht. Seither ist die dortige Visastelle etwas ausgebaut worden.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Etwas?)

Aber die Wartezeit auf ein Visum beträgt in Beirut noch immer ein halbes und in Ankara fast ein ganzes Jahr. Hier geht es um Familienzusammenführung und Menschen, die unter fürchterlichen Bedingungen leben und zu uns kommen dürfen. Sie müssen warten, weil die Administration nicht funktioniert. Ich akzeptiere das nicht und erwarte von Ihnen, dass Sie dort Abhilfe schaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Bundeskanzlerin, in der Finanzkrise haben Sie bemerkenswerte Ruhe und Schnelligkeit – darauf haben Sie selbst hingewiesen – an den Tag gelegt. Aber dann kam erst einmal nichts, keine Bankenregulierung und keine effiziente Aufsicht. Kurze Zeit später stolpert Europa in die Griechenland-Krise. Beispiel Atomausstieg: Unter dem Eindruck der Ereignisse in Fukushima korrigierten Sie Ihren Fehler beim Atomausstieg. Aber seither dümpelt die Energiewende vor sich hin. Ich kann nur hoffen, dass es diesmal anders ist und dass Sie nun vorausschauend und auf Dauer handeln.

Ein starkes Land wie unseres kann die Aufnahme von Schutzsuchenden stemmen. Wir können das Zusammenleben organisieren und die Menschen mit ihren Befürchtungen und Ängsten mitnehmen. Aber dafür braucht es mehr als technokratisches Administrieren, nämlich Empathie, Überzeugungskraft und eine entschlossene Haltung gegenüber fremdenfeindlichen Tendenzen, wie Sie selber gesagt haben. Ich hoffe sehr, dass das so bleibt. Dafür kann ich Ihnen auch die Mitarbeit der Grünen zusagen.

Da gibt es ein paar Grundsätze: Jede und jeder hat das Recht, überprüfen zu lassen, ob er oder sie Anspruch auf Asyl hat. Weil es dieses Grundrecht gibt, meine Damen und Herren, kann es schon rechtslogisch gar keinen Asylmissbrauch geben. Deswegen: Hören Sie auf, solche Worte zu benutzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Kollege Straubinger, Ihnen kann ich nur sagen: Gehen Sie doch rüber. Gehen Sie einmal nach Damaskus, und schauen Sie sich an, wie es sich dort gerade lebt.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Warum? Er ist Deutscher!)

Treffen Sie doch einmal ein paar Flüchtlinge, statt vom Schreibtisch aus die Welt zu erklären. Jetzt zu sagen, man könne auch nach Syrien abschieben, das finde ich der Situation nicht angemessen. Ich finde, das ist den Flüchtlingen gegenüber eine Katastrophe. Sie schüren Unsicherheit, und Sie schüren damit zugleich noch Ressentiments. Hören Sie damit sofort auf!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das, was uns die Bürgerinnen und Bürger jetzt gerade vormachen, können wir nutzen, etwa als Aufbruch. Ich meine die Humanität, die Freundlichkeit und auch die Bereitschaft, etwas über die eigene Kraft hinaus zu tun. Wir können es aber auch nutzen, um klarzumachen: Das geht weiter. Ja, wir brauchen ein modernes Einwanderungsgesetz, damit die Neubürger, von denen Sie gesprochen haben, Frau Bundeskanzlerin, irgendwann zu Mitbürgerinnen und Mitbürgern werden können. Ich frage mich, wie viel Unterstützung hat eigentlich Ihr Generalsekretär dafür?

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, so groß Ihr Fortschrittsvorsprung gefühlt auch sein mag, leider ist Ihnen recht spät aufgefallen, dass Sie wenigstens ein „Einwanderungsgesetz light“ wollen. Lieber Sigmar Gabriel, da müssen Sie sich vielleicht fragen: WwTSt? – Was würde Til Schweiger tun? Wir werden einen entsprechenden Entwurf hier noch einmal zur Abstimmung stellen, und dann können auch Sie für ein Einwanderungsgesetz stimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Flüchtlingspolitik, ja, das ist eine europäische Aufgabe. Wir sind das potenteste Land in Europa, und aus dieser Stärke folgt dann eben auch Verantwortung. Die Verantwortung darf aber eben nicht heißen: „Was ist gut für Deutschland?“, sondern muss heißen: Was ist gut für Europa? Das ist der qualitative Schritt, um den es geht. Wir können hier nicht über die Lasten der Flüchtlingsaufnahme stöhnen und weiter jeden Elan bei der Bekämpfung der Fluchtursachen vermissen lassen.

Das gilt aber übrigens auch für die Bekämpfung der Fluchtursachen auf dem europäischen Kontinent. Wer Geld in Staaten mit korrupter Verwaltung gibt, muss kontrollieren, wo und wie dieses Geld ankommt, und zwar erst recht, wenn es um die Verbesserung der Situation der Schwächsten, nämlich der Roma in einigen Balkanstaaten, geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])

Wer, wie Herr Juncker das getan hat, das Signal an den Westbalkan sendet, dass Europa nicht dorthin kommt, muss sich nicht wundern, dass sich die Menschen aufmachen, um in dieses Europa zu kommen. Deswegen ist der Arbeitsmarktzugang für diese Menschen so wichtig. Wir helfen an dieser Stelle ja gern mit Ideen. Haben Sie sie aufgenommen? Ich hoffe, Sie setzen sie auch so um, dass es nicht nur bei Überschriften bleibt, die eine Beruhigungspille sein sollen.

Herr Gysi, vielleicht können Sie das Ihrer Fraktion als Abschiedsgeschenk ins Stammbuch schreiben: Wer Europa immer nur schlechtredet, kann auf der anderen Seite nicht an die europäische Solidargemeinschaft appellieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD und der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])

Es ist immer viel leichter, das Böse in den USA zu sehen, als sich selber Gedanken über Fluchtursachen und über eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa zu machen.

(Ulli Nissen [SPD]: Sehr gut!)

Meine Damen und Herren, vor eineinhalb Jahren begann die Debatte über mehr Verantwortung in der Welt. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung war das sehr schnell eine Debatte über den Einsatz militärischer Mittel. Da passt es ja ganz prima, wenn der Wirtschaftsminister munter im Namen der Wirtschaftsförderung Rüstungsgüter in autokratische Staaten und in Krisenregionen exportiert. Ich weiß, dass Sie das nervt, Herr Gabriel. Ich werde es trotzdem immer wieder sagen. Ich werde es auch laut sagen, weil Sie sich an dem messen lassen müssen, was Sie selber überall versprechen und wie einen heiligen Gral mit sich herumtragen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu gehört es auch, dass wir mit unseren Exportüberschüssen verhindern, dass schwächere Länder eigene rentable Wirtschaftsstrukturen aufbauen können; vielmehr zerstören wir vielerorts die kleinbäuerliche lokale Landwirtschaft und lassen durch unser „Geiz ist geil“ im Fleischkonsum ganze Weltregionen über die Klinge springen.

Vielleicht hoffen Sie ja, dass angesichts der gegenwärtigen Situation und wegen der Aufnahme der Flüchtlinge die Klimakrise aus dem Blick gerät. Falsch! Während Barack Obama trotz des beginnenden Wahlkampfes sein politisches Gewicht mit Blick auf die Klimaschutzabkommen in die Waagschale wirft, verharrt die Bundesregierung im Mittelmaß.

Es gibt viele Lichtblicke auf der Welt. – Das haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, vorhin gesagt. Das stimmt – nur leider nicht bei uns. Auf dem internationalen Parkett reden Sie von Klimaschutz, aber dann vergessen Sie auf dem Heimweg immer, dass Sie zu Hause auch liefern müssen. Jetzt ist die Gefahr riesig, dass Paris auf die letzte Minute ein unbefriedigendes Ergebnis erzielt, weil es eben nicht ordentlich vorbereitet ist.

Sie reden von Dekarbonisierung der Wirtschaft, aber Sie scheinen davon auszugehen, dass das irgendwie von allein passiert. Stattdessen finden sich auch in diesem Haushaltsentwurf wieder und wieder Milliarden für umweltschädliche Subventionen. Energiewende im Verkehrsbereich? Anstieg statt Reduzierung des Verbrauchs! Nur halb so viel Strom aus Erneuerbaren – nicht wie wir, wie Sie sich vorgenommen haben –, ja, hat das irgendwas mit Energiewende zu tun? Das ist das Gegenteil von Energiewende!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung liest, dann muss man Aktionen schon mit der Lupe suchen. Prüfauftrag, Prüfauftrag, Gutscheine für Sprit-Spar-Training bei Neuwagenkauf – eine wirklich sehr schöne Maßnahme. Wen soll das eigentlich beeindrucken? Stattdessen subventionieren Sie weiter Kohledreckschleudern, obwohl die ordentlichen Gaskraftwerke dastehen. Das ist eine Subvention der Kohleindustrie. Das hat nichts mit Versorgungssicherheit für die Menschen und Stromkunden zu tun, sondern mit Versorgungssicherheit für die Kohleindustrie, meine Damen und Herren. Nein, wir werden dieses Thema nicht vergessen

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schön!)

und werden Ihnen immer wieder sagen: Sie haben auch hier eine Verantwortung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bleibe dabei, trotzdem: Die Flüchtlingsfrage wird die größte Aufgabe sein und bleiben. Ich habe mir den Clip angeguckt, Frau Bundeskanzlerin. Sie haben in Zürich, als Sie über den Islam sprachen, auch über das Christentum geredet und beklagt, dass man in Deutschland zu wenig Kenntnisse darüber habe, was das Pfingstfest bedeutet. Diese Chance kann ich mir jetzt nicht entgehen lassen.

(Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Ich weiß es!)

– Dass Sie es wissen, ist mir klar.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie auch! Das wissen wir auch!)

Als der Heilige Geist erschien, begannen die hebräisch sprechenden Jünger, plötzlich fremde Sprachen zu verstehen. Ich schlage vor: Wir nehmen dieses Bild für genau das, was Deutschland als Vision gut gebrauchen kann. Wir verstehen einander: unterschiedliche Kulturen, Religionen, Herkunft, Geschichten. Damals war es der Geburtstag der Kirche. Ehrlich gesagt, wenn wir es schaffen könnten, das Ganze jetzt als Chance zu betrachten, dann wäre das vielleicht der Geburtstag eines neuen Deutschland –

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Neues Deutschland, das hatten wir mal! Das war nichts!)

wenn Sie es ernst meinen, wenn Sie es tun und wenn Sie es nicht nur verwalten.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])

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