Dagmar WöhrlCDU/CSU - Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen, die Haushaltsdebatte, die diese Woche läuft, ist hauptsächlich von einem Thema beherrscht. Uns allen sind die schrecklichen Bilder von im Mittelmeer ertrunkenen Menschen vor Augen – inzwischen sind es über 2 600 –, von Menschen, die in Europa in Lastwagen erstickt sind, Flüchtlinge, die mit ihren Familien versuchen, an der ungarischen Grenze Stacheldrahtzäune zu überwinden.
Ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche.
Es sind Bilder, die uns allen nicht mehr aus dem Kopf gehen. Vielen von uns standen die Tränen in den Augen, als wir das Bild von Aylan gesehen haben. Aber es sind auch Bilder, die uns zum Handeln zwingen und die uns sagen: Wir müssen umdenken. Wir müssen in diesem Zusammenhang wieder verstärkt das Heft in die Hand nehmen.
Wir haben gehört, dass über 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind, darunter 38 Millionen Binnenflüchtlinge. 86 Prozent der Menschen, die aus ihrem Heimatland fliehen, leben in Entwicklungsländern. Das heißt, jeder 122. Mensch auf der Welt ist auf der Flucht. Hier sind auch wir gefordert, und zwar in vielfältiger Art und Weise. Gefordert, dass wir verhindern müssen, dass es in den Ländern, in die die Flüchtlinge vor allem fliehen – wie Jordanien oder den Libanon, wo inzwischen 25 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge sind –, zu einer Destabilisierung kommt.
Ich bin froh, dass wir auch schon in der Vergangenheit mit 170 verschiedenen Projekten im Rahmen der Syrien-Krise aktiv gewesen sind. Ich möchte nicht wissen, wo wir heute stünden, wenn wir nicht in der Vergangenheit schon so aktiv unsere Entwicklungszusammenarbeit gestaltet hätten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deswegen auch vielen herzlichen Dank an die vielen, die auch in der Vergangenheit mit aktiv gewesen sind! Ich bin froh, dass wir jetzt durch das Aufstocken des Etats die Möglichkeit haben, in diesem Bereich noch stärker aktiv zu werden.
Wir leben in einer Zeit zunehmender Gewalt. Krisen und Konflikte spitzen sich immer mehr zu. Es gibt immer mehr Vertreibung durch Terrorismus und ethnische Probleme, und vor allem auch immer mehr bittere Armut und Hunger, die die Menschen fliehen lassen. Das Flüchtlingsthema hat also eine neue Dimension erreicht.
Ich bin froh, dass wir die drei Sonderinitiativen haben, die von unserem Minister auf den Weg gebracht worden sind, nämlich „EineWelt ohne Hunger“, „Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ und „Stabilisierung und Entwicklung in Nordafrika und Nahost“, die es schon vorher gab, und dass wir die Mittel von 200 Millionen Euro auf 400 Millionen Euro verdoppeln konnten. Vielen Dank auch an die Haushälter über die Fraktionsgrenzen hinweg! Aber wir wissen, es wirkt immer alles wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir würden uns in diesem Rahmen natürlich mehr wünschen.
Fluchtursachen bekämpfen: Das ist zurzeit in aller Munde. Aber was sind Fluchtursachen? Ich habe es schon angesprochen: Wie würden wir dastehen, wenn wir in diesem Zusammenhang bisher nicht aktiv gewesen wären?
Für uns ist es wichtig, dass wir im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit es schaffen, Lebensperspektiven in den Entwicklungsländern bzw. in den krisengeschüttelten Ländern zu verbessern. Das sind Länder, die eine sehr junge Bevölkerung haben. In Afrika leben jetzt 1,2 Milliarden Menschen. 2100 soll Afrika 4,4 Milliarden Einwohner haben. Das ist fast das Vierfache. Über 50 Prozent sind junge Leute, die eine Perspektive brauchen. Das sind junge Leute, die in ihrer Heimat bleiben wollen. Es ist schließlich nicht so, dass sie ihre Heimat gerne verlassen. Sie möchten zu Hause bei ihrer Familie bleiben: bei ihrer Schwester, bei ihrem Bruder oder bei ihren Kindern. Wir müssen ihnen eine Chance geben. Sie brauchen unsere Unterstützung, damit sie in ihrem Heimatland und in ihrem Heimatort etwas bewegen können. Sonst werden sich viele von ihnen in Bewegung setzen.
Ich hoffe, dass wir auf dem Gipfeltreffen in Malta im Herbst geschlossen mit einer Stimme sprechen. Die Europäische Union ist eine Macht, aber nur dann, wenn sie auch zukünftig mit einer Stimme spricht. Die Staaten müssen umdenken. Sie müssen mehr gemeinsam agieren und auch einmal gegenüber den Regierenden in den afrikanischen Ländern mit der Faust auf den Tisch hauen, nach dem Motto „So geht es nicht weiter“. Sie müssen wissen, dass sie in die Pflicht genommen werden, sie müssen wissen, dass sie selbst den Exodus der Einwohner ihrer Länder verhindern müssen und dass sie aktiver sein müssen als bisher.
(Beifall des Abg. Martin Patzelt [CDU/CSU])
Nichtsdestoweniger ist es für uns wichtig, auch weiterhin für die Ernährungssicherung zu sorgen, was wir auch schon in der Vergangenheit gemacht haben: durch ländliche Entwicklung und Aufklärung der Frauen, damit sie ihre Kinder ernähren können, und durch viele andere Maßnahmen mehr.
Bildung und Beschäftigungsförderung sind genauso wichtige Themen wie die Rückkehr von Flüchtlingen. Gesundheitszentren, die vernichtet wurden, müssen wieder aufgebaut werden. Des Weiteren steht die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Vordergrund. In diesem Zusammenhang möchte ich mich besonders bei unseren politischen Stiftungen bedanken, die hier hervorragende Arbeit leisten. Ich bin daher froh, dass es möglich war, den Etatansatz in diesem Bereich zu erhöhen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wichtig ist für uns, in Zukunft mithilfe präventiver Ansätze noch mehr dafür zu sorgen, dass Konflikte erst gar nicht zustande kommen; das ist unsere primäre Aufgabe. Wir dürfen nicht erst dann aktiv werden, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Vielmehr müssen wir zukünftig noch mehr Präventionsmaßnahmen ergreifen. Dass wir uns um die Ausbildung von Richtern und kommunalen Verwaltungsbeamten kümmern. Dass wir funktionierende Justizsysteme in den betreffenden Ländern aufbauen, damit die Menschen Gerechtigkeit einfordern können und so nicht mehr zur Flucht gezwungen sind. In den betreffenden Ländern müssen freie und pluralistische Medienlandschaften entstehen, damit korrupte politische Führungen kontrolliert werden können. Wir müssen Maßnahmen zu Versöhnungsprozessen ergreifen, um Konflikte zwischen verfeindeten Gruppen und Ethnien zu beseitigen.
Ich möchte noch ein Wort zum Westbalkan sagen. Wir wissen alle, dass es für die Flucht der Migranten vom Westbalkan andere Ursachen gibt als für die Flucht der Menschen aus Syrien oder Eritrea, wo eine Militärdiktatur herrscht, oder aus Nigeria, wo Boko Haram sein Unwesen treibt. Aber wir müssen dafür sorgen, dass auch die Menschen vom Westbalkan eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung erfahren und eine Zukunft haben, und zwar unter klaren Bedingungen. Wenn man einmal gesehen hat, unter welchen Bedingungen die Roma auf dem Westbalkan leben, dann weiß man, dass das kein Leben ist. Das ist menschenunwürdig. Man glaubt, im schlimmsten Entwicklungsland in Afrika zu sein. Die Roma haben keinen Zugang zu Arbeit und Gesundheitssystemen, teilweise keinen Zugang zu Schulen. Angesichts dessen frage ich mich, was aus der EU-Konvention geworden und wohin das Geld geflossen ist, das die betreffenden Länder für die Roma bekommen haben. Ich glaube, in diesem Zusammenhang müssen wir den Finger noch viel stärker auf die Wunde legen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich bin dem Minister dankbar, dass er mit der GIZ das DIMAK im Kosovo geöffnet hat. Das ist eine sehr gute Einrichtung, zu der die Menschen vor Ort hingehen und von der sie sich Hilfe und Beratung erbeten können. Für die Verbesserung ihrer beruflichen Chancen in ihrem Land. Dort werden ihnen aber auch legale Möglichkeiten der Arbeitsvermittlung nach Deutschland aufgezeigt. Ich würde mich freuen, wenn wir auch in Albanien und anderen Ländern des Westbalkans nach Abschluss der Pilotphase dieses Projekt installieren könnten.
Europa sollte – ich sage absichtlich: sollte – beim Flüchtlingsthema eine Rolle spielen. Als die Euro-Krise akut wurde, wurde ein Gipfel nach dem anderen – fast im Tagesrhythmus – einberufen. Aber wo sind den jetzt die Gipfel und Zusammenkünfte im Tagesrhythmus, wenn es um Flüchtlinge geht? Europa muss beweisen, dass es in der Lage ist, nicht nur von Werten zu reden, sondern auch den Schutz von Flüchtlingen als gemeinsamen Wert anzuerkennen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Europa hat den Friedensnobelpreis bekommen. Es muss jetzt aber beweisen, dass es diesen Friedensnobelpreis tatsächlich verdient hat. Europa muss hier langsam in die Puschen kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich bedanke mich ganz herzlich bei unserem Minister, der das Ministerium sehr gut aufgestellt hat. Er ist authentisch und ein Vordenker, der erkannt hat, dass sein Haus das Zukunftsministerium ist und noch mehr im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen wird. Wir, die wir im exklusiven Wohlstand leben, sitzen in einem Boot und haben gemeinsam Verantwortung. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch das Auswärtige Amt einbeziehen, das sich in vielen Bereichen in die richtige Richtung neu aufgestellt hat. Vielleicht schaffen wir es, die Kräfte noch mehr zu bündeln und insbesondere bei der Verzahnung von humanitärer Hilfe und Übergangshilfe noch besser zusammenzuarbeiten. Ich glaube, das wäre in diesem Zusammenhang sehr gut.
Wir alle sind gefragt, ob es die Industrieländer sind, ob es die Schwellenländer sind. Aber vor allem müssen hier die Entwicklungsländer selbst aktiv werden. Wir haben unterschiedliche Verantwortlichkeiten entlang der jeweiligen Leistungsfähigkeit. Das ist ganz klar; das wissen wir alle. Entweder sind wir bereit, unseren Wohlstand mit anderen zu teilen, oder wir teilen mit anderen deren Schicksal.
In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vielen Dank, Dagmar Wöhrl. – Nächste Rednerin: Heike Hänsel für die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 120 |
Tagesordnungspunkt | Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung |