Marianne SchiederSPD - Bildung und Forschung
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Vorrednerinnen und Vorredner sind bereits allgemein auf die Vorzüge, aber auch auf die Baustellen eingegangen, die es im Bildungsetat gibt. Manch einer, Herr Schipanski, hat deutlich daran vorbeigeredet; das muss man auch einmal sagen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Weil er Grund hatte!)
Ich möchte Ihr Augenmerk auf eine besondere und, wie ich meine, viel zu wenig beachtete Problematik richten. Ich möchte auf die Lage all der Menschen in diesem Land eingehen, die mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche zu kämpfen haben und die mehr oder weniger als Analphabeten einzustufen sind.
Worüber reden wir da? Hierzulande gelten – man kann es kaum glauben, aber es ist wahr und durch zuverlässige Forschung nachgewiesen – 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter als funktionale Analphabeten. Das sind 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. 57 Prozent der Betroffenen gehen einer regelmäßigen Arbeit nach, häufig natürlich als angelernte oder ungelernte Arbeitskräfte. Deutsch – man höre und staune – ist bei 58 Prozent der Betroffenen die Muttersprache. 80 Prozent der Betroffenen haben sogar einen Schulabschluss. Es handelt sich also nicht um ein Rand- oder gar ein Randgruppenproblem, sondern es handelt sich um eine Problematik, die die gesamte Gesellschaft durchdringt.
Wir reden über Bürgerinnen und Bürger, die ihre Rechte und Pflichten nicht entsprechend wahrnehmen und erfüllen können und dies wie einen schrecklichen Makel vor ihren Nachbarn, vor Freunden, vor den Arbeitgebern, ja, manchmal sogar vor der eigenen Familie geschickt zu verbergen wissen.
Wir reden über Väter und Mütter, die ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen können. Wir reden über Menschen, die aus Scham und Furcht in prekären Jobs landen, obwohl sie mit der richtigen Unterstützung gute Chancen auf qualifizierte Arbeitsplätze hätten.
(Beifall bei der SPD)
Wir reden über Menschen, die wir aus einer menschenunwürdigen Situation befreien müssen – einer Situation, die eines Sozialstaats und einer Bildungsgesellschaft unwürdig ist.
(Beifall bei der SPD)
Weil uns Sozialdemokraten dieses Thema so wichtig ist, ist es Teil des Koalitionsvertrags geworden. Wir haben bereits im Juni dieses Jahres einen Antrag dazu in erster Lesung beraten. Dieser Antrag und die darin eingeforderten Maßnahmen sind gerade auch in der Fachöffentlichkeit sehr positiv aufgenommen worden.
Im Zentrum steht die Forderung nach einem familien- und lebensweltorientierten Förderprogramm, das niedrigschwellige Angebote unterstützt, mit denen die betroffenen Menschen und ihre Familien erreicht werden können, um so die Schreib- und Lesepraxis in den Familien zu stärken.
Wir brauchen aber auch den Ausbau von arbeitsplatzorientierter Grundbildung, damit vor allen Dingen erwerbstätige Menschen mit Lese- und Schreibschwäche gefördert werden können.
Wir halten es für dringend erforderlich, dass eine nationale Koordinierungs- und Monitoringstelle gegründet wird, die all die Aktivitäten des Bundes, aber auch der Länder bündelt und Service und Beratung bietet.
(Beifall bei der SPD)
Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Vielmehr gilt es, die vielen erfolgreichen Pilotprojekte in die Fläche zu tragen und ein Angebot zu schaffen, das die Zielgruppen erreicht. Auch die vielen Lehrkräfte und Erwachsenenbildner, die sich von einer befristeten Stelle zur anderen hangeln, brauchen endlich Planungssicherheit und gesicherte Arbeitsverhältnisse.
Frau Ministerin, am Dienstag haben Sie anlässlich des Weltalphabetisierungstags auch Ihre Pläne zu diesem Thema vorgestellt. Das wurde auch Zeit, kann ich dazu nur sagen; denn ich will heute nicht verhehlen, dass ich lange Zeit, eigentlich bis Dienstag, den Eindruck hatte, dass das Interesse an diesem Thema seitens des Ministeriums und auch seitens der Ministerin wesentlich ausgeprägter sein könnte. Aber ich bin natürlich sehr erfreut, dass es jetzt losgeht, dass sich das Ministerium und die Ministerin dieses Themas annehmen und dass Sie mit uns gemeinsam die nationale Dekade für Alphabetisierung anschieben. Das ist gut so, und die Maßnahmen, die angekündigt worden sind, sind es auch.
Aber es gibt an manchen Stellen noch Luft nach oben. Das betrifft vor allen Dingen die Finanzierung. 180 Millionen Euro für zehn Jahre ist viel Geld, aber angesichts der Tragweite der Aufgabe nicht zu viel Geld. Da waren wir schon weiter. Wir haben in den Haushalt für 2015 immerhin schon knapp 20 Millionen Euro eingestellt. Bei diesem Betrag pro Jahr sollten wir, meine ich, auch bleiben.
(Beifall des Abg. Dr. Karamba Diaby [SPD])
Ich hoffe sehr, dass das letzte Wort in dieser Hinsicht noch nicht gesprochen ist. Denn das Thema ist wichtig. Es handelt sich um eine Thematik, die nicht in kurzer Zeit zu bewältigen ist. Nur durch ausreichende und gesicherte Mittelausstattung können wir langfristige Projekte finanzieren und verhindern, dass nur Leuchtfeuer entzündet werden, die im Endeffekt nicht zum Ziel führen.
Wir haben einen guten Weg eingeschlagen, was die Alphabetisierung und Grundbildung betrifft. Ich bin sicher, dass die ausgerufene Alphabetisierungsdekade helfen wird, die Zahl der Analphabeten in unserem Land zu senken. Es gibt aber noch viel zu tun, bis dieses Ziel erreicht ist. Ich bitte Sie alle in allen Fraktionen, uns zu unterstützen. Ich bitte Sie: Packen wir es gemeinsam an, um eine für die Menschen unwürdige Situation, die dringend verbessert werden muss, wirklich zu verbessern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Kollegin Anette Hübinger, CDU/CSU-Fraktion, hat jetzt das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/5763876 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 121 |
Tagesordnungspunkt | Bildung und Forschung |