24.09.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 124 / Tagesordnungspunkt 5 + ZP 3

Bernhard DaldrupSPD - Unterstützung der Kommunen

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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Liebing, wir arbeiten, wie Sie wissen, gut zusammen. Ich bedanke mich auch für die Erarbeitung des vorliegenden Antrags, den wir gemeinsam formuliert haben. Ich hätte aber nicht vermutet, dass Sie reflexartig in NRW-Bashing verfallen. Aus der Perspektive eines ehemaligen Bürgermeisters von Sylt-Ost ist Nordrhein-Westfalen nicht so leicht zu verstehen; das kann ich wohl nachvollziehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich jedenfalls bin da ganz aufgeschlossen. So sollten Sie sich, wie ich denke, einmal anschauen, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Hessen läuft: nämlich so ziemlich dasselbe, was früher Herr Rüttgers in Nordrhein-Westfalen gemacht hat. Wissen Sie, was das Ergebnis war? Herr Rüttgers ist abgewählt worden.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, schauen wir mal!)

Und wir machen das dann anders.

Jetzt zur Sache. 60 Bürgermeister – Frau Kassner, Sie haben darauf hingewiesen – waren vor einiger Zeit, im Februar, bei uns. Sie sind heute wieder hier. Sie alle kommen aus Kommunen mit einer ausgesprochen angespannten Haushaltslage und haben sich in einem Bündnis zusammengeschlossen, das die Überschrift „Für die Würde unserer Städte“ trägt.

(Beifall der Abg. Petra Hinz (Essen) [SPD])

Natürlich geht es ihnen ums Geld; das ist keine Frage. Es geht ihnen aber auch um die Wertschätzung kommunaler Selbstverwaltung. Es geht um eine Kommunalpolitik, die die Freiheit hat, die Lebensbedingungen der Menschen zu gestalten, statt sie immer nur einzuschränken. Sie zeigen auch: Unsere Kommunen hier in der Bundesrepublik Deutschland sind systemrelevant für unsere Demokratie. Dafür bin ich ihnen dankbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Kerstin Kassner [DIE LINKE])

Der Kernbestand kommunaler Selbstverwaltung ist in einigen Kommunen in der Tat gefährdet. Diejenigen, die heute hier sind, repräsentieren – Frau Kassner hat es eben gesagt – immerhin 10 Millionen Menschen; das ist nicht wenig. Wir, die Koalitionsfraktionen, zeigen heute aber auch, dass uns die Kommunalpolitik, dass uns das Leben in den Städten und Gemeinden wichtig ist und dass wir die Notlagen sehr ernst nehmen. Das zeigt auch unser Antrag heute, Frau Kassner. Ich bin all denjenigen aus den beiden großen Fraktionen, die daran mitgewirkt haben, sehr dankbar.

Ich will die vier Kernprobleme, die die Kommunen haben, stichwortartig benennen: erstens die anhaltend hohe Verschuldung inklusive der wachsenden Kassenkredite, zweitens die dauerhafte Investitionsschwäche bei einem gleichzeitigen Rückstand von Investitionen, der bei 120 Milliarden Euro, vielleicht auch bei 150 Milliarden Euro liegt, dem allerdings nur eine Investitionsquote von 20 Milliarden Euro gegenübersteht, drittens die dramatisch steigenden Soziallasten – 2005 betrugen die Sozialausgaben noch 35 Milliarden Euro, heute liegen sie bei über 50 Milliarden Euro; all das sind Kosten, die bei den Kommunen auflaufen – und viertens – das ist sozusagen die Quintessenz – die auseinanderdriftenden Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland.

Diese langfristigen Kernprobleme werden seit mindestens einem Jahr durch die große Zahl von Flüchtlingen in den Städten und Gemeinden überlagert – ich sage ausdrücklich „überlagert“ und nicht „verursacht“ ; sie stellen nämlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine neue, eine zusätzliche Herausforderung für die Städte und Gemeinden dar. Deshalb erwarten wir seitens der SPD, dass die beim heutigen Flüchtlingsgipfel getroffenen Entscheidungen auch zeitnah und konkret umgesetzt werden, weil nur dann aus dem Appell der Kanzlerin „Wir können das schaffen!“ die Zuversicht entsteht: Ja, wir schaffen das auch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Kern stehen die Kommunen vor vier großen Herausforderungen.

Die erste große Herausforderung sind die internationalen und europäischen Aufgaben zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Darüber ist heute Morgen gesprochen worden; das ist nicht Thema dieser Debatte.

Hier in Deutschland geht es insbesondere um die finanzielle Handlungsfähigkeit der Städte und Gemeinden. Deswegen halten auch wir eine prozentuale Beteiligung des Bundes an den Kosten jedes einzelnen Flüchtlings für richtig. Die 3 Milliarden Euro, die bisher bundesseitig angeboten worden sind, sind ein richtiger Schritt in die richtige Richtung, aber vor dem Hintergrund der Zahlen, auf denen sie basieren, die aber nicht mehr aktuell sind, ist das einfach zu wenig. Ich habe auch Zweifel daran, dass die heute Morgen in den Nachrichten und im Fernsehen vom hessischen Ministerpräsidenten geforderten 4 Milliarden Euro hinreichend sind.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nee, nee, nee! 5, 6, 7, 8 Milliarden! Immer druff! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Nach oben keine Grenze!)

– Er hat es gesagt. – Zur Debatte gehört jedenfalls, zu betonen, dass eine strukturelle und dauerhafte Bundesbeteiligung wichtig ist. Dazu gehört nicht nur, die Gesundheitskarte verfahrensmäßig einzuführen, sondern auch die Übernahme der Kosten.

Überdies geht es um Verfahren zur Verteilung von Flüchtlingen und damit verbundene organisatorische und technische Regelungen, die vorhin schon angesprochen worden sind und die ich hier nicht wiederholen will.

Ich will mich gerne für die SPD dem Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung und an die Zivilgesellschaft anschließen. Ihr Engagement kann man aber nur dann aufrechterhalten, wenn der Planungshorizont vor Ort über den nächsten Tag hinausreicht.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich komme zurück zu den langfristigen Problemen. Wenn die Schere zwischen den Kommunen weiter auseinandergeht, ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland gefährdet. Das ruft den Bund auf den Plan. Der Bund hat den verfassungsrechtlichen Auftrag, für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu sorgen. Das ist quasi die räumliche Seite des Sozialstaatsgebots, und das ist eine Aufgabe des Bundes.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ebenso wie die dramatische Verschuldung klafft in der Tat – es ist schon richtig, was vorhin gesagt worden ist – auch die Investitionskraft auseinander. Es ist richtig, dass selbst innerhalb Bayerns Disparitäten festzustellen sind. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt in München bei fast 90 000 Euro, während es im Landkreis Bayreuth gerade einmal 19 000 Euro sind. Mit anderen Worten: Auch hier gibt es eine Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse und der Lebensbedingungen.

Es erscheint – ich zitiere aus dem Kommunalen Finanzreport der Bertelsmann-Stiftung –

ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die dokumentierten Disparitäten das Ergebnis von politischen Fehlentscheidungen, Unterschieden in der Effizienz der Aufgabenerfüllung oder anderen selbstverschuldeten Aktivitäten sind.

Das ist das Fazit der Bertelsmann-Stiftung. Deswegen muss es, so sage ich es einmal, andere, zusätzliche Verursachungen geben.

Wir als Koalition haben meines Erachtens schon eine ganze Menge erreicht. Das Thema Übernahme von Soziallasten durch den Bund ist bereits angesprochen worden; da ist nicht nur an die Grundsicherung im Alter, sondern auch an die jeweils 1 Milliarde Euro in den Jahren 2015 und 2016 für die Eingliederungshilfe zu denken. Auch ist die Stärkung der Investitionskraft angesprochen worden. 3,5 Milliarden Euro sind keine Kleinigkeit. Wir haben etwas für gleiche Lebenschancen getan, indem wir die Mittel für das Sondervermögen für Kitaplätze aufgestockt haben und eine ganze Reihe weiterer Punkte mehr angegangen sind.

Wir erwarten allerdings auch, dass auf dem Flüchtlingsgipfel konkrete zusätzliche Vereinbarungen getroffen werden. Wir werden beispielsweise die Mittel für den sozialen Wohnungsbau deutlich erhöhen, damit nicht nur jeder Flüchtling, sondern jeder, der über geringe Mittel verfügt und eine Wohnung benötigt, auch tatsächliche eine Wohnung bekommt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege, die Zeit.

Der letzte Punkt, den ich noch erwähnen möchte, betrifft die Frage, wie es mit den Bund-Länder-Finanzbeziehungen weitergeht. Das ist in der Tat eine Angelegenheit, die zunächst einmal Bund und Länder zu regeln haben. Man kann sich die Frage stellen, ob es nicht ein interessanter Vorschlag ist, beispielsweise die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens nicht nur an die Wirtschaftskraft zu koppeln, sondern möglicherweise mit anderen sozialen Indikatoren zu verknüpfen. Ich persönlich habe große Sympathien für Altschuldentilgungsfonds und Ähnliches mehr. Nur: Es muss tatsächlich auch finanzierbar sein.

Ob es gelingt, die kommunalen Finanzbeziehungen gänzlich auf neue Beine zu stellen, weiß ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. Als Sozialdemokrat und als Mitglied dieser Großen Koalition stelle ich jedoch gerne fest: Die Kommunen und ihre Interessen haben großes Gewicht in der Politik der SPD, in der Politik dieser Koalition und auch, wie ich glaube, dieser Bundesregierung.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Britta Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5848439
Wahlperiode 18
Sitzung 124
Tagesordnungspunkt Unterstützung der Kommunen
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