24.09.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 124 / Zusatzpunkt 1

Omid NouripourDIE GRÜNEN - Aktuelle Stunde zur Syrienkrise

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:

Seien wir ehrlich: Bislang sind alle Anläufe der internationalen Gemeinschaft für eine politische Lösung gescheitert.

Dieser Satz ist ein Zitat des Herrn Außenministers aus dem Tagesspiegel. Dies ist Ausdruck der notwendigen Demut, die wir hinsichtlich des Syrien-Konflikts sicher alle empfinden. Für die Politik der Bundesregierung gilt dieses Eingeständnis des Scheiterns aber nicht; denn dafür hat sie in den vergangenen viereinhalb Jahren viel zu wenig gemacht.

Herr Wadephul, Sie haben internationale Schutzverantwortung als Prinzip angeführt. Ich frage mich, ob irgendetwas in der Politik der Bundesregierung dieses Prinzip abbildet. Ich sehe das leider nicht.

Es gibt natürlich in allen Fraktionen Kolleginnen und Kollegen, die sich in den vergangen vier bis fünf Jahren intensiv mit diesem Thema beschäftigt haben. Wir müssen uns alle die Augen reiben, weil die Flüchtlinge, die jetzt kommen, dazu führen, dass die Bundesregierung mehr tun will, aber nicht die 250 000 Toten und Millionen von Opfern des Krieges.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Gutes Argument!)

Besser spät als nie. Es gilt aber natürlich das Wort des Außenministers: Seien wir ehrlich.

Seien wir ehrlich: Wir versagen kläglich bei der Versorgung der Flüchtlinge. Es ist gut, dass dem Welternährungsprogramm jetzt mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden. Es ist jetzt aber schon im dritten Jahr ein gewisses Ritual, dass das Welternährungsprogramm im Frühjahr darauf hinweist, dass das Geld spätestens im Herbst ausgehen werde – ich weiß, da gibt es keinen Dissens –, und im Oktober werden dann die Rationen für Kinder gekürzt. Das muss uns alle mit Scham erfüllen.

Seien wir ehrlich: Die Bundesregierung hat nach vier Jahren Krieg immer noch keine Vorstellung davon, wie sie die Nachbarstaaten unterstützen will. Der Libanon ist andauernd kurz vor dem Kollaps. Kein Mensch kann erklären, wie es dieses Land schafft, zu überleben. Sie brauchen keine humanitäre Hilfe mehr für Projekte von sechs Monaten Dauer. Sie brauchen Entwicklungszusammenarbeit. Sie brauchen Infrastruktur. Sie brauchen Strukturen, die langfristig halten, aber nicht die Fragestellung im BMZ: Ist der Libanon ein Schwerpunktland unserer Politik? Wo müssen wir jetzt mehr Geld geben und wo nicht? Investitionen in die Infrastruktur im Libanon sind jetzt schlicht Friedenspolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt im Übrigen auch für den Irak. Irak war das erste Land und ist hoffentlich auch das letzte Land, das vom Konflikt in Syrien so heftig betroffen ist, und es ist das zweite große Land, in dem ISIS sein barbarisches Unwesen treibt. Ich bin gestern aus dem Irak zurückgekommen. Die zentrale Frage, die mir dort gestellt wurde, ist dieselbe wie im letzten Jahr: Wo sind eigentlich die Deutschen? Wo ist das deutsche Kapital? Welches politische Kapital bringt Deutschland in der zentralen Frage der Reintegration der Sunniten, in der Frage der nationalen Aussöhnung ein? – Diesbezüglich gibt es eine sehr große Leerstelle.

Ja, in Syrien wird ein sehr brutaler, harter und vielschichtiger Stellvertreterkrieg geführt, und ja, es gibt Staaten, die das Land mit in den Abgrund gerissen haben. Mit den Vertretern dieser Staaten muss man trotzdem sprechen, und man muss zu diesen Staaten auch Beziehungen unterhalten; es hilft nichts, den Kopf in den Sand zu stecken wie der Vogel Strauß und so zu tun, als hätte sich an der Situation nichts geändert.

Die Türkei ist gerade genannt worden. Die Türkei hat 2 Millionen Menschen aufgenommen. Der Außenminister war vor kurzem in Deutschland und hat dankenswerterweise eine Migrationspartnerschaft angeboten. Das ist gut, und das ist richtig. Man muss aber auch einmal laut und hörbar – so, dass Herr Erdogan sich nicht verstecken kann – das Grenzmanagement der Türkei ansprechen; denn dadurch wurden die Barbaren von ISIS zumindest in den letzten zwei Jahren unterstützt. Man muss sagen, dass ISIS zumindest indirekt immer wieder sehr stark aus der Türkei heraus unterstützt worden ist. Trotz meiner persönlichen Antipathie gegenüber der PKK muss ich sagen: Es kann nicht sein, dass man versucht, einen Bürgerkrieg anzuzetteln, weil ein Wahlkampf bevorsteht. – Das alles ist indiskutabel, aber das muss angesprochen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es muss auch gesagt werden, dass Saudi-Arabien vielleicht nicht von ISIS, aber von vielen anderen dschihadistischen Gruppen ein Hauptfinanzier ist. Es kann doch nicht sein, dass daraus keinerlei Lehren gezogen worden sind, zum Beispiel für Rüstungsexporte.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Beispiel Iran ist gerade genannt worden. Ja, es gibt natürlich die Hoffnung, dass infolge des Nuklearabkommens eine Dynamik entsteht und die Iraner eine andere, in Zukunft hoffentlich konstruktive Rolle bezogen auf Syrien spielen werden. Das Gegenteil ist aber auch möglich – auch das muss man benennen –: Es besteht das Risiko, dass die Kriegskassen der Revolutionswächter durch das Atomabkommen, für das ich sehr bin, gefüllt werden und am Ende des Tages das erste Opfer dieses Abkommens – noch einmal: für das ich sehr bin – das syrische Volk ist. Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Auch das muss man ansprechen.

Bezogen auf Russland ist die Situation ganz schwierig, sogar dramatisch. Der Kollege Kiesewetter hat neulich gesagt, dass Deutschland sich an Luftschlägen beteiligen möge. Man muss sagen – das gehört zur Ehrlichkeit dazu –, dass das zurzeit nicht in erster Linie aus legalistischen Gründen nicht geht, sondern weil Russland zurzeit jede Ankündigung sehr schnell und sehr deutlich mit militärischer Eskalation beantwortet. So werden in Latakia jetzt ein zweites und ein drittes Militärlager aufgebaut. Es wird alles andere als einfach, Russland ins Boot zu bekommen.

Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der Umgang mit Assad. Das ist nicht die einzige zentrale Frage, da es zurzeit drei zentrale Gruppen in Syrien gibt: die Assad-Schergen, die ISIS-Leute und nun auch noch die al-Nusra, die ab und an einmal die Zivilisten beschützt. Al-Nusra ist im Übrigen eine al-Qaida-Filiale; das ist hochdramatisch. Die Bundeskanzlerin hat ja recht, wenn sie sagt: „Vielleicht wird es irgendwann einmal notwendig sein, mit Assad zu reden“, was aber nicht geht, ist – da bin ich bei Ihnen –, ihn zum Partner zu machen. Zum Partner können wir ihn nicht machen. Wir können ihn nicht reinwaschen. Wir können nicht sagen: „Im Irak ist die Reintegration der Sunniten, die dort in der Minderheit sind, eine zentrale Aufgabe“, und der Mehrheit in Syrien – das sind die Sunniten – sagen, dass Assad unser Partner wird, obwohl eindeutig ist, dass er verantwortlich ist für die Ruinen in ihren Städten, für die Fassbomben, für das Töten ganzer Familien, für den Tod von 250 000 Menschen. Wir können nicht sagen: Wir haben viereinhalb Jahre nichts gemacht, und jetzt, da die Flüchtlinge zu uns kommen, paktieren wir mit dem größten Mörder der gesamten Region, damit wir die Flüchtlinge von uns fernhalten. – Das wäre das falscheste Signal, das wir zurzeit aussenden könnten. Ich glaube, das wäre kein Beitrag zur Befriedung Syriens.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt spricht die Kollegin Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5848835
Wahlperiode 18
Sitzung 124
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zur Syrienkrise
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