25.09.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 125 / Tagesordnungspunkt 21

Elisabeth ScharfenbergDIE GRÜNEN - Stärkung der pflegerischen Versorgung

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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister Gröhe! Herr Laumann! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich könnte Sie hier auch mit „Sehr geehrte Pflegebedürftige von morgen und übermorgen“ begrüßen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht so pessimistisch!)

Sie bringen heute den Entwurf eines Gesetzes, des PSG II, ein. Offensichtlich sind Ihnen ja blumige Namen wie „Pflegeneuausrichtungsgesetz“ und „Pflegeweiterentwicklungsgesetz“ ausgegangen. Wir fangen jetzt an, durchzunummerieren. Das PSG I hatten wir ja schon. Wir werden sehen, wo wir am Ende dieser Legislatur landen. Ich befürchte, das wird jetzt eine unendliche Geschichte werden.

Nach vielen Jahren soll nun endlich mit dem PSG II der Pflegebegriff umgesetzt werden. Dieser Pflegebegriff – ich habe das immer betont – ist das Herzstück aller Pflegereformen der letzten Jahre. 500 000 Menschen mehr sollen in die Pflegeversicherung mit einbezogen werden, und die Beiträge werden um insgesamt ein Viertel ansteigen. Das sind 6 Milliarden Euro zusätzliche Beiträge der Versicherten jährlich. Dies ist eine der größten Veränderungen in der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen.

(Mechthild Rawert [SPD]: Und das ist gut so!)

Demenzkranke sollen erstmals gleichberechtigt in die Pflegeversicherung einbezogen werden. Und Leistungen für Pflegebedürftige werden danach bemessen, wie stark die Selbstständigkeit eingeschränkt ist. Das heißt, es wird nicht mehr gefragt: Was kann wer nicht mehr? Vielmehr wird die Frage gestellt: Was kann wer noch? Und da geht es, ehrlich gesagt, richtig um was.

Wir nehmen uns gerade einmal etwas mehr als eine Stunde Zeit, um dieses Gesetz einzuführen und zu beraten. Wir werden auch bei der Anhörung am nächsten Mittwoch nicht viel Zeit haben. Und die kritischen Stimmen der Expertinnen und Experten werden Sie – wie bei so vielen anderen Themen – einfach überhören. Noch im November wird dann das PSG II hier verabschiedet. Das ist, ehrlich gesagt, ein Husarenritt nicht in Hochgeschwindigkeit, sondern in Höchstgeschwindigkeit,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und das bei einem Gesetz, das wichtig ist für so viele Menschen in unserem Land: für die Pflegebedürftigen, für die Angehörigen und insbesondere auch für die Pflegekräfte.

Das ganze Vorgehen wundert mich nicht einmal. Sie betonen gerne und häufig die Wichtigkeit der Pflege. Um diese Wichtigkeit zu beweisen, jagen Sie ein Pflegegesetz nach dem anderen durchs Parlament:

(Mechthild Rawert [SPD]: Auch das ist gut so!)

das Pflegestärkungsgesetz I, das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, aktuell das PSG II mit dem neuen Pflegebegriff, demnächst dann die unsägliche Reform der Pflegeausbildung.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Kollegin, was sollen wir denn? Sollen wir handeln, oder sollen wir gar nichts machen?)

Dazu kommt das Krankenhausstrukturgesetz. Auch hier ist ein zentraler Punkt der Pflegepersonalmangel in den Krankenhäusern. Dann kommt noch das Hospiz- und Palliativgesetz. Davon sind Pflegeeinrichtungen und Pflegekräfte wesentlich betroffen. Aber es bleibt keine Zeit für eine öffentliche Auseinandersetzung.

(Mechthild Rawert [SPD]: So ein Quatsch!)

Ehrlich: Sie selbst kommen bei diesem Tempo nicht mehr mit. Unterm Strich: Sie weigern sich, die wirklich wichtigen Fragen zu beantworten. Ich habe das Gefühl, Sie schaffen lieber erst einmal Tatsachen. Aber Quantität bedeutet eben nicht automatisch Qualität, und gut gemeint bedeutet eben noch lange nicht gut gemacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ein neuer Pflegebegriff, eine Pflege, die den Menschen mehr Selbstständigkeit und Teilhabe am Leben ermöglichen soll, 500 000 Menschen mehr, die Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten sollen: Das kostet Geld. Dazu braucht es natürlich mehr gut qualifiziertes Personal. Woher soll das denn bitte kommen?

(Mechthild Rawert [SPD]: Durch eine generalistische Ausbildung! – Gegenruf des Abg. Tino Sorge [CDU/CSU]: Naja, warten wir mal ab!)

– Dazu komme ich gleich. – Sie haben den Beitrag zur Pflegeversicherung erhöht. Aber Sie selbst geben ja zu, dass diese Finanzierung eben mal bis 2022 steht. Nur bis 2022! Ehrlich: Das ist alles andere als nachhaltig!

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, lieber Herr Minister, eine Reform, die so viele Menschen betrifft, braucht ein wirklich starkes Fundament.

(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das hat sie!)

Aber davon fehlt mir hier jede Spur.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Einzige, was Ihnen zur Finanzierung einfällt, ist der Pflegevorsorgefonds; ein Fonds, der jährlich rund 1,2 Milliarden Euro an Beitragsgeldern einfach schluckt;

(Maria Michalk [CDU/CSU]: „Anlegen“ heißt das, nicht schlucken!)

Beitragsgelder, die wir aktuell woanders viel dringender bräuchten, Beitragsgelder, die aktuell dringend für die Pflege verwendet werden müssten.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Das ist ein Element der Vorsorge, Frau Kollegin! Das wissen Sie doch auch!)

– Hören Sie auf die Expertinnen und Experten! Diese haben Ihnen bestätigt, dass das kein Element der Vorsorge ist, sondern nur absolute Showpolitik.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Man kann sich immer die Experten raussuchen, die man will! Es gibt auch andere Experten, die genau das Gegenteil sagen!)

Dieser Fonds wird dazu führen, dass der Beitrag in der Zukunft um gerade einmal 0,1 Prozentpunkte sinken wird. Ehrlich: Das ist keine spürbare Entlastung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nach 20 Jahren wird dieser Fonds leer sein. Es wird aber nicht plötzlich mehr Beitragszahlerinnen und Beitragszahler geben; das ist doch eine absolute Milchmädchenrechnung. Der Beitrag wird dann einfach wieder sprunghaft steigen müssen.

Wir haben einen besseren Vorschlag. Wir predigen schon lange Zeit die grüne Pflegebürgerversicherung.

(Maria Michalk [CDU/CSU]: Oh nein!)

Sie würde uns finanzielle Spielräume eröffnen, zum Beispiel mehr Geld für Pflegekräfte; denn natürlich brauchen wir mehr Personal. Es muss uns doch allen klar sein: Wir brauchen mehr Personal, wenn mehr ältere und pflegebedürftige Menschen in unserer Gesellschaft leben. Wir werden auch mehr Personal brauchen, wenn das PSG II so umgesetzt werden soll, wie es uns der Kollege Lauterbach gerade so blumig dargestellt hat.

Wo soll denn dieses zusätzliche Personal herkommen? Die Pflegekräfte arbeiten jetzt schon am Limit; das wissen wir doch alle. Wenn das PSG II 2017 in Kraft treten wird, dann werden die Pflegekräfte noch mehr gefordert werden; denn die Pflege wird sich ändern, ändern müssen, wenn wir den Pflegebegriff ernst nehmen. Die Antwort auf dieses Problem? Tja, leider Fehlanzeige!

Sie wollen bis 2020 ein Personalbemessungsinstrument entwickeln. Ehrlich: Das ist viel zu spät.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Pia Zimmermann [DIE LINKE])

Wenn dieses Instrument entwickelt ist, dann ist es auch noch nicht flächendeckend umgesetzt. Ich möchte noch einmal erinnern: Ihre Finanzierung steht bis 2022. Wenn Sie 2020 anfangen, zu überlegen, wie Sie ein Personalbemessungsinstrument umsetzen, dann ist die Kasse schon lange wieder am Limit.

Wir brauchen mehr Menschen, die in der Pflege arbeiten und das auch wollen. Nur so können wir auch Personalbemessungsvorgaben umsetzen und erfüllen. Diese Menschen kommen aber nur, wenn sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege wesentlich verbessern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die generalistische Pflegeausbildung, die Sie planen, wird das Gegenteil erreichen. Drei Ausbildungen sollen zu einem Beruf zusammengelegt werden, und das bei der gleichen Ausbildungsdauer: drei Berufsausbildungen eingedampft auf drei Jahre.

(Mechthild Rawert [SPD]: Modernisiert! In anderer Form!)

Es springt einen doch an: Da wird Fachwissen verloren gehen. Das wertet einen Beruf nicht auf; das wertet einen Beruf ab.

(Heike Baehrens [SPD]: Unsinn! Das ist doch einfach Unsinn!)

Und: Sie ignorieren die massiven Probleme bei der Umsetzung. Es scheint Sie überhaupt nicht zu interessieren. Doch es gibt diese Probleme. Es gibt einen Mangel an generalistisch qualifizierten Lehrkräften.

(Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen doch in Richtung Qualität!

Es wird zu wenig Praxisstellen, es wird zu wenig Praxisanleitungen geben. Die Kosten werden steigen. Die Finanzierung ist ungeklärt. Diese Probleme existieren. Sie blenden sie aus. Wir bekommen keine Antworten, und das ist, ehrlich gesagt, ein ganz unlauteres Vorgehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Probleme werden aber dazu führen, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in der Pflege nicht steigen, sondern zurückgehen wird. Das wird verheerende Auswirkungen auf die gesamte Pflegelandschaft haben.

Der neue Pflegebegriff wird nicht umzusetzen sein. Sie versprechen auch mehr Unterstützung für pflegende Angehörige: ein bisschen mehr Absicherung in der Arbeitslosenversicherung, ein bisschen mehr Rente – für manche. Viele wird das gar nicht erreichen.

Das wird bei weitem nicht reichen. Wir brauchen endlich Angebote für pflegende Angehörige, die wirklich entlasten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Grüne Wählerinnen und Wähler gibt es in der Pflege auf jeden Fall nicht!)

Die Gesetze, die Sie bisher dazu gemacht haben, belasten die Angehörigen, beispielsweise das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Mit dem Darlehen bleiben alle Lasten bei den Angehörigen hängen.

Sie tun nichts, was Strukturfragen angeht, und sie tun nichts für eine nachhaltige Finanzierung. Alles wird in die Zukunft verschoben. Das sind ungedeckte Schecks, und das bei einem PSG II, in das so viele Menschen berechtigte Hoffnung setzen.

Ich fordere Sie auf: Denken Sie die Probleme in der Pflege endlich zusammen! Lösen Sie die wichtigen Probleme! Kümmern Sie sich um eine zukunftsfeste Finanzierung! Sorgen Sie für ein besseres Ansehen des Pflegeberufs, und tun Sie endlich etwas für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege!

(Hilde Mattheis [SPD]: Mit so einer Kritik bestimmt nicht!)

Am Mittwoch haben Tausende Pflegekräfte am Brandenburger Tor genau dafür demonstriert.

(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das stimmt ja so nicht!)

Das sollte Sie endlich wachrütteln. Sehen Sie doch einmal die Realität!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Georg Nüßlein das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5852128
Wahlperiode 18
Sitzung 125
Tagesordnungspunkt Stärkung der pflegerischen Versorgung
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