Martin PatzeltCDU/CSU - Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Ich muss erst einmal zu Ihnen sagen, Herr Müller: Sie haben die Dinge nach meinem Ermessen auf den Kopf gestellt.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)
Es ging ausdrücklich um das Kindeswohl. Im Interesse der jungen Menschen mussten wir dringend eine Umverteilung in die Länder hinein vornehmen. Denn nicht etwa die bayerische Staatsregierung oder Kommunen in Bayern – wir haben es gerade gehört – haben versagt,
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ganz im Gegenteil! – Zuruf des Abg. Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE])
sondern der unerwartete Ansturm junger ausländischer Menschen in einer solchen Größenordnung verlangte, dass wir sie in ihrem Interesse an Orten unterbringen, wo man ihren Bedürfnissen besser gerecht werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE])
Insofern bietet der vorliegende Gesetzentwurf wirklich eine gute Lösung. Im Übrigen ist die Unterbringung dieser jungen Menschen die Hauptregelung in diesem Gesetzentwurf.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) galt ja für die jungen unbegleiteten Flüchtlinge schon immer.
(Sönke Rix [SPD]: Genau!)
Es gibt also nichts Neues. Es wird an bestimmten Stellen – da, wo vielleicht Unklarheiten bestanden – justiert. Gerade wir, die Mitglieder des Familienausschusses, haben noch einmal festgestellt, dass das KJHG galt und weiter gilt und dass es auch schon früher spezifische Regelungen für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gab, nach denen verfahren wurde.
Ich danke an dieser Stelle besonders den freien Trägern der Jugendhilfe, die im Prozess der Gesetzgebung ihre Erfahrungen und Impulse eingebracht haben. Sie haben sich in den vergangenen Jahren ja schon intensiv um junge Menschen gekümmert. Dadurch konnten sie wesentliche Erfahrungen als Input für unsere Gesetzgebung beisteuern.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir verweisen durch die vorgesehene Regelung die ganze Last auf die Länder. Die Länder werden in noch höherem Maße für die Einhaltung der Qualitätsstandards zuständig sein. Insbesondere die Kommunen werden die Last zu tragen haben. Die Kommunen als Träger der Jugendhilfe haben hierbei die Hauptverantwortung und die Hauptlast. Insofern stellen die in Rede stehenden Unterstützungen des Bundes – sie sind erheblich; das zeigt sich, wenn man bedenkt, dass die Unterstützung für die einzelnen Flüchtlinge zusammen mit der Sonderunterstützung für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge bei insgesamt 350 Millionen Euro liegt – eine erhebliche Entlastung für die Kommunen dar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vorletzten Ausgabe der Zeit trug ein Artikel die Überschrift: „Starke Truppe“. In diesem Artikel wurde mit der Notwendigkeit der Aufstockung der Polizei und der Sicherheitsorgane für einen starken Staat argumentiert. Es heißt dort, dass wir in Zeiten kommen werden, in denen wir angesichts der dramatischen Zuwächse von Flüchtlingen in unserem Lande eine sehr starke Polizei und einen sehr starken Staat brauchen. Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Damit allein wäre es nicht getan. Wir brauchen jetzt vor allen Dingen ganz starke Jugendämter, starke Kommunen, die fachlich, personell und finanziell das stemmen können, was wir ihnen aufgetragen haben,
(Norbert Müller (Potsdam) [DIE LINKE]: Fällt aber auch nicht vom Himmel!)
die mit Realitätsbezug und Augenmaß ihre tatsächlichen Möglichkeiten sehen.
Hier warne ich davor, dass wir uns Illusionen hingeben. Das, was hier uns als Gesellschaft abverlangt wird, wird angesichts der schon jetzt nicht ausreichenden Anzahl an Erzieherinnen und Sozialpädagogen überhaupt nicht in der Form zu stemmen sein, wie es eigentlich gemacht werden müsste. Ich höre schon, wie wieder gesagt wird: Hier versagt die öffentliche Jugendhilfe. Hier versagen die Länder. Hier versagt der Bund. – Es geht um Ressourcen, die wir niemals einplanen konnten und die erst einmal nicht da sind. Schon jetzt sucht man in ganz Deutschland dringend nach Erzieherinnen.
Wenn der Verband der Psychotherapeuten fordert, dass schwer traumatisierte junge Menschen eine entsprechende psychotherapeutische Hilfe bekommen sollen, dann frage ich: Wo leben denn diejenigen, die das fordern? Sie alle wissen doch, dass es Wartelisten gibt und dass man jahrelang auf eine Behandlung warten muss. Schon jetzt können sie deutsche Patienten nicht kurzfristig behandeln.
(Karin Binder [DIE LINKE]: Ja, woran liegt das denn?)
Woher sollen also die notwendigen Kapazitäten kommen? Wir müssen uns jetzt gemeinsam bemühen, entsprechende Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir die Bedarfe stillen. Aber im Moment müssen wir uns anders behelfen.
Deshalb sage ich: Wir brauchen auch eine starke Zivilgesellschaft. Wir können es nicht der Politik und den Jugendämtern überlassen, zu bestimmen, wie es den jungen Menschen geht. Wenn das Willkommen verklungen ist, wenn die Träume der jungen Menschen vom Paradies der Desillusion gewichen sind, wenn die jungen Menschen in der Wirklichkeit in Deutschland angekommen sind, dann brauchen sie vor allen Dingen Hilfe, Begleitung, Nähe von Menschen. Die jungen Menschen haben Hunger auf Leben, und sie haben sich uns anvertraut. Ich bin tief überzeugt, dass Integration, von der jetzt so viel gesprochen wird, die gefordert wird – meist einseitig von denen, die zu uns kommen –, nicht einseitig funktioniert. Ich glaube, dass auch wir uns bemühen müssen, diesen Integrationsprozess miteinander zu gehen.
(Beifall der Abg. Susann Rüthrich [SPD])
Integration bedarf auch immer der Partizipation. Wenn wir die Menschen nicht an unserem Leben teilhaben lassen, dann ist die ganze Integrationsforderung eine Utopie.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Auf noch etwas möchte ich aufmerksam machen. Wir müssen darauf bedacht sein, dass wir Identitäten schützen. Es kann nicht sein, dass die jungen Menschen, die zu uns kommen, von ihrer Vergangenheit, von ihren Wurzeln, aus denen sie hervorgekommen sind, abgeschnitten werden. Kindeswohl verlangt danach, dass sie ihr bisheriges Leben – das Milieu, aus dem sie kommen, ihre lieben Menschen, auch ihr Vaterland – in ihrem Bewusstsein behalten können, schon deshalb, weil wir gar nicht wissen, ob sie nicht eines Tages zurückgehen werden – hoffentlich als ausgebildete Facharbeiter, vielleicht sogar mit einem Studium. Wir kennen ihre Zukunft nicht. Aber unabhängig davon, auch wenn sie hierbleiben: Sie haben Wurzeln, und die dürfen wir ihnen nicht nehmen.
Herr Kollege Patzelt, darf ich kurz unterbrechen? – Der Kollege Mutlu möchte Ihnen gern eine Frage stellen.
Wenn es wesentlich ist, gern.
Bitte schön.
Danke, Frau Präsidentin. Danke, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. Zunächst einmal möchte ich Ihnen ganz persönlich für Ihren Einsatz und für den Einsatz Ihrer Frau danken. Sie haben, wie wir über die Medien erfahren haben, Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Trotz Anfeindungen, trotz Angriffen haben Sie daran festgehalten.
(Beifall im ganzen Hause)
Das ist absolut vorbildhaft.
Sie haben ja jetzt über die letzten Monate am eigenen Leib Erfahrungen gemacht und wissen, wie es ist, einen Flüchtling aufzunehmen – trotz dieser Anfeindungen in Ihrer Gemeinde, von manchen, Gott sei Dank nicht von allen. Sind Sie denn aufgrund der Erfahrungen, die Sie jetzt gesammelt haben, der Meinung, dass das, was gerade als Vorhaben vor uns liegt, hinreichend ist? Was würden Sie auf die Frage sagen, wo ergänzt werden kann, wo Verbesserungsbedarf besteht?
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Frage. Ich werde nämlich in meinen weiteren Ausführungen genau darauf Antwort geben. Ich bedanke mich auch für die Wertschätzung, wobei ich mir immer bewusst bin, dass das, was wir als Familie tun, nicht verallgemeinerbar ist. Das ist bei der Herkunft und dem Lebenskontext eine spezifische Möglichkeit. Wir haben an Lebensqualität nur gewonnen, Gott sei Dank; es hätte auch anders kommen können. Aber das will ich nun wirklich nicht als Maßstab für andere setzen. – Danke schön.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich sprach davon, dass wir die Identitäten der jungen Menschen schützen müssen. Ich meine auch, dass wir achtgeben müssen, dass keine Parallelwelten entstehen. Wenn wir das nicht begleiten und wenn wir nicht aufmerksam sind und wenn wir vor allen Dingen keine Partizipation an unserem Leben zulassen, an unseren gesellschaftlichen Aktivitäten in Vereinen, Sportvereinen, Chören, Schulklassen, dann werden ganz schnell, wie man das auch jetzt schon in Deutschland in bestimmten Großstädten erleben kann, Parallelwelten entstehen, die uns und den Menschen, die zu uns gekommen sind, auf Dauer eher schaden als nützen werden.
Wir dürfen keine Angst davor haben, dass auch wir uns in diesem Prozess verändern werden. Wenn wir uns auf die jungen Menschen, auf die Fremden, einlassen, wenn wir mit ihnen leben – jetzt weiß ich auch, wovon ich spreche –, dann wird das auch uns wahrnehmbare Veränderungen abfordern. Davor brauchen wir keine Angst zu haben. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass er, wenn die Kinder groß sind, nicht mehr der junge Vater oder die junge Mutter sein wird, der oder die er einmal war. Wir können uns bei unseren Kindern eigentlich bedanken, dass sie uns immer in ihre Lebenswelt mit hineinnehmen und uns Älteren damit auch Lernmöglichkeiten schenken.
Ich denke, dass sich in Deutschland so etwas wie eine Willkommenseuphorie – so würde ich fast sagen – abspielt, was auch schön und wunderbar zu erleben ist, weil es eine so wertvolle und gute Stimmung sowie ein gutes Zeichen für unser Land ist. Aber wenn diese Euphorie verflogen ist, müssen wir über Sachmittel hinaus vor allen Dingen Beziehungsangebote machen. Die Jugendämter haben dafür Sorge zu tragen, dass die sachliche Ausstattung gut ist, ausreichend ist. Und wenn man das vergleicht: Kinder aus manchen Milieus in Deutschland haben lange nicht den gleichen materiellen Standard für ihre Lebensführung wie die Kinder, die durch die Jugendhilfe betreut werden. Das müssen die Jugendämter verantworten. Aber keine Politik, kein Amt kann das geben, was uns Menschen so nottut, nämlich lebendige Beziehungen. Das auch als Antwort auf Ihre Frage.
(Beifall im ganzen Hause)
Wir sollten deswegen von hier und überall in unseren Wahlkreisen das Signal aussenden: Liebe Freunde, liebe Verwandte, liebe Kolleginnen und Kollegen, kümmert euch um diese jungen Menschen! Sucht euch einen aus, nehmt ihn mit in eure Familien, nehmt ihn mit in eure Bekanntenkreise, nehmt ihn mit auf eure Reisen! Ladet ihn ein! Ermuntern wir unsere Kinder, zu sagen: Wir haben jetzt neue Mitbürgerinnen und Mitbürger. – Ich war am Dienstag bei einer Versammlung, auch wieder zu diesem Thema, und da haben mich Kinder aus mehreren Schulklassen gefragt: Wie können wir helfen? Was können wir denen geben? – Ich habe geantwortet: Eure Gemeinschaft, eure Nähe, eure Anteilnahme. Spielt, singt, wandert, redet einfach miteinander! Macht miteinander Ausflüge! Hört einander zu!
Wir erleben in Deutschland eine zunehmende Angst – das nehme ich jedenfalls so wahr – vor dem, was angesichts der Menge der Flüchtlinge auf uns zukommt. Diese Angst lähmt uns; diese Angst verführt uns vielleicht dazu, in extreme Positionen zu verfallen, von denen wir gar nicht wissen, wohin sie unser Land bringen könnten. Angst ist ein schlechter Berater; Angst macht blind.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich wünsche mir, unserem Land und auch denen, die zu uns gekommen sind, sehr, dass wir miteinander einen Weg gehen, auf dem wir die Angst verlieren. Denn beim Gehen kann man die Angst verlieren.
Letzten Endes nehmen wir auch durch die Beispiele, die wir geben, die Ängstlichen in unserem Lande mit, indem wir ihnen zeigen: Es geht doch! – Auf einmal haben Flüchtlinge ein Gesicht. Sie haben einen Namen. Dann werden sie auf einmal sogar angenehme Zeitgenossen. Ich könnte Ihnen dazu ein Beispiel erzählen. Ein Nachbar kam zu uns und sagte: Jetzt möchte ich die beiden mal zu mir einladen; ich möchte ihnen beibringen, wie man einen Computer bedient. – Er hat ihnen gestern den Schlüssel von seiner Wohnung gegeben und gesagt: Ihr könnt immer in meine Wohnung gehen, wenn ihr am Computer arbeiten wollt.
Da entwickeln sich Dinge, die man vorher nie geglaubt hätte, weil Menschen ein Beispiel sehen und sich dadurch ermutigt fühlen und keine Angst mehr haben. Wir haben Angst um unsere Identität. Deutschland wird aus diesem Prozess nicht wieder so hervorgehen, wie es hineingegangen ist. Aber das muss nicht zu unserem Schaden sein.
(Beifall im ganzen Hause)
Herr Kollege Patzelt, ich muss Sie jetzt trotzdem bitten, zum Schluss zu kommen.
Noch zwei kurze Sätze, in denen ich eine Lebenserfahrung mitteilen möchte, die viele machen und die man auch immer wieder auf Kalenderblättern liest: Es gibt nirgendwo Glück zu kaufen; Glück entsteht aus Begegnung. Versagen wir uns doch nicht dieses Glück, Menschen zu begegnen, die uns besonders brauchen.
(Beifall im ganzen Hause)
Vielen Dank. – Der nächste Redner ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 125 |
Tagesordnungspunkt | Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge |