Ute BertramCDU/CSU - Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir alle sind sehr berührt von den Flüchtlingsströmen, die aus Syrien, dem Irak und auch aus Afrika, vor allem aus Eritrea, zu uns kommen. 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, der Flucht und Vertreibung in bis dahin unvorstellbarer Größe hervorgebracht hat, wird die Erinnerung an diese katastrophalen Zeiten gleichsam aktualisiert. Wir stehen als Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht, die gegenwärtigen Zustände zu bewältigen. Was da noch auf uns zukommt, können wir bestenfalls erahnen.
Unser ganzes Staatswesen ist gefordert: Bund, Länder und Kommunen; aber das reicht noch nicht. Wir benötigen die Hilfe aus allen Ecken der Gesellschaft: von der professionellen Unterstützung bewährter Großorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz und dem Technischen Hilfswerk bis hin zur nachbarschaftlichen Hilfe.
Die Flüchtlinge haben Schlimmes erlebt. Oft sind sie geradezu der Hölle entronnen. Da stellt sich nicht nur die Frage nach Essen, Trinken und Unterkunft, sondern da stellen sich auch diese Fragen: Wie verwundet sind ihre Seelen? Wie verarbeiten diese Menschen das Erlebte? Und vor allem: Wie groß ist überhaupt der Bedarf an einer medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung? Und: Was kann tatsächlich geleistet werden?
Die Bundespsychotherapeutenkammer hat hierzu vor wenigen Tagen einige Zahlen veröffentlicht, die zumindest erahnen lassen, mit welchen Dimensionen des Schreckens wir es zu tun haben. So sind 70 Prozent der nun hier lebenden Erwachsenen und 41 Prozent der Kinder und Jugendlichen in ihren Heimatländern oder auf der Flucht Zeugen von Gewalt geworden. 55 Prozent der Erwachsenen haben selbst Gewalt erfahren, bei den Kindern sind es 15 Prozent. Folter haben 43 Prozent der Erwachsenen erlitten. Von Gefangenschaft waren 35 Prozent der Erwachsenen betroffen. 20 Prozent der Erwachsenen waren Opfer von Vergewaltigungen, erlitten sexuellen Missbrauch. 5 Prozent der Kinder waren ebenfalls davon betroffen.
In Deutschland werden momentan bis zu 4 000 Flüchtlinge in psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer behandelt. Bundesweit gibt es 23 dieser Zentren, in denen etwa 130 Psychotherapeuten arbeiten. Allein im Berliner Zentrum wird die Betreuung in 22 Sprachen abgedeckt. Der Arbeit, die hier geleistet wird, zolle ich meine Hochachtung und meinen Respekt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die in diesen psychosozialen Zentren arbeitenden Therapeuten sind geradezu massenweise konfrontiert mit der sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung, deren Symptome sich in Albträumen, Konzentrationsstörungen, Schreckhaftigkeit und emotionaler Taubheit äußern. Zu den Symptomen gehören auch sogenannte Flashbacks, in denen sich Angstzustände, bis zur Todesangst, zeigen, wenn schmerzliche Erinnerungen wach werden. Nicht zuletzt sind Depressionen unter den Flüchtlingen weit verbreitet. Unsere besondere Aufmerksamkeit muss der schnellen und konsequenten Behandlung und Betreuung von Kindern gelten; denn hier besteht in erhöhtem Maße die Gefahr einer Chronifizierung von traumabedingten Störungen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dass mindestens jeder zweite Flüchtling unter einer psychischen Störung leidet. Sollte sich bewahrheiten, dass in 2015 fast 800 000 Flüchtlinge nach Deutschland kom men, hätten wir einen Personenkreis von 400 000 Flüchtlingen, der zumindest aus der Perspektive der Bundespsychotherapeutenkammer psychotherapeutisch zu versorgen wäre. Aus dem B ereich der Ärztlichen Psychotherapeuten ist demgegenüber zu hören, dass bei Flüchtlingen Depressionen keineswegs häufiger auftreten als in Gesellschaften in Friedenszeiten. Wie dem auch sei, eine grundsätzliche Tatsache kann weder geleugnet noch kurzfristig behoben werden: In der jetzigen Situation, die durch eine anhaltend steigende Flüchtlingszahl gekennzeichnet ist, kann auch die psychiatrische Versorgung zunächst nur eine Akutversorgung sein.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum?)
Wir wissen nicht, ob, wie lange und in welchem Ausmaß der Zustrom der Flüchtlinge anhalten wird; da müssen wir uns alle ehrlich machen. Ich halte es deshalb für nicht angebracht, wenn Berufsverbände der Psychotherapeuten die jetzige Situation zum Anlass nehmen, eine Debatte über die allgemeine psychotherapeutische Versorgungslage loszutreten. Darüber haben wir schon vor der Sommerpause im Zusammenhang mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz ausgiebig diskutiert. Wir wissen alle, dass es keinen Mangel an ausgebildeten Psychotherapeuten gibt. Es gibt hinsichtlich der Versorgung aber bekanntlich eine ungleiche Verteilung, die zu überversorgten und unterversorgten Regionen geführt hat. Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle, dessen tiefere Ursache in der demografischen Entwicklung liegt. Dieser strukturellen Problemlage stellen wir uns, aber bitte nicht im Zusammenhang mit der Akutversorgung von Flüchtlingen.
Ich hätte es übrigens begrüßt, wenn Berufsverbände der Psychotherapeuten an ihre Mitglieder appelliert hätten, sich für die Versorgung von Flüchtlingen unbürokratisch zur Verfügung zu stellen. Die entsprechende Erklärung der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung von gestern, dass die Zahnärzteschaft zu einer schnellen und unbürokratischen Versorgung der zahlreichen Flüchtlinge bereit ist, hat mir jedenfalls sehr gefallen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtlinge werden, sobald sie sich 15 Monate in Deutschland aufhalten, im Krankheitsfall über das System der gesetzlichen Krankenversicherung versorgt. Nun wird kritisiert, dass in diesem System nicht genügend Ärzte und Psychotherapeuten für die psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung besonders schutzbedürftiger und traumatisierter Flüchtlinge zur Verfügung stehen.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt ja auch!)
Eine begonnene Versorgung durch die Therapeuten in den psychosozialen Zentren könne nicht fortgesetzt werden, wenn diese Therapeuten keine Kassenzulassung besäßen. Diese Situation ist häufig gegeben, weil in vielen NGOs ausgebildete Psychotherapeuten beschäftigt sind, die aber keine Kassenzulassung haben.
In der Tat ist es ein grundsätzliches Problem, wenn im Laufe einer psychotherapeutischen Versorgung der Therapeut gewechselt werden muss. Dies gefährdet oft den bis dahin erreichten Behandlungserfolg und ist deshalb nach Möglichkeit zu vermeiden.
Deshalb begrüßt meine Fraktion die Absicht der Bundesregierung, dem Problem durch eine Änderung der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte der GKV abzuhelfen und eine bruchlose Versorgung zu sichern, wenn nach 15 Monaten Leistungen nach dem GKV-Katalog anstehen. Dies soll dadurch geschehen, dass die Zulassungsausschüsse verpflichtet werden, Ärzte, Psychotherapeuten und Einrichtungen wie die psychosozialen Zentren auf Antrag zu ermächtigen, einen eingeschränkten, besonders schutzbedürftigen Personenkreis psychotherapeutisch und psychiatrisch zu versorgen. Dieser Personenkreis soll beschränkt sein auf Empfänger laufender Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben. Auf diese Weise können begonnene Therapien der Akutversorgung von den behandelnden Therapeuten auch dann fortgesetzt werden, wenn sie bislang nicht zugelassen worden sind. So wird die Kontinuität der Behandlung gewährleistet.
Damit stellt sich die Bundesregierung auch ihrer Verantwortung aus Artikel 19 der EU-Aufnahmerichtlinie, der eine psychologische Behandlung in besonderer Weise einfordert. Nebenbei kommt diese Regelung auch der allgemeinen vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung der Versicherten in der GKV zugute; denn die regulär im GKV-System tätigen Leistungserbringer werden nicht angezapft.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Akutversorgung von Flüchtlingen ist schon für sich genommen eine außerordentliche Herausforderung für alle Beteiligten. Hinzu kommen die sprachlichen Hürden und kulturellen Barrieren.
Bei der Kommunikation stellt sich zunächst die quantitative Frage nach Dolmetschern. Vielfach wird es auch notwendig sein, auf eine Drittsprache – vielleicht Spanisch, Englisch oder Französisch – auszuweichen. Dabei besteht naturgemäß das permanente Risiko von Missverständnissen.
Vor allem aber besteht in einer psychotherapeutischen Behandlung fremdsprachiger Flüchtlinge das grundlegende Problem, dass es sich bei einem Dolmetscher immer um eine dritte Person handelt. Ob und inwieweit diese als Vertrauensperson von Patient und Therapeut anerkannt wird, kann sich immer nur von Fall zu Fall erweisen. Das gilt oft auch dann, wenn Sprachmittler Familienangehörige sind.
Auch die bereits erwähnten kulturellen Barrieren dürfen nicht unterschätzt werden. Die Offenlegung persönlichster Gedanken und Empfindungen als Opfer von Gewalt gegenüber einem Therapeuten, der zugleich ein Unbekannter, ein Fremder ist, stellt schon für sich genommen eine Hürde dar, die nicht jeder Mensch überwinden kann oder will. Dies gilt umso mehr für Menschen aus einem Kulturkreis, in dem die Offenlegung von persönlichen oder intimen Darstellungen weitgehend tabuisiert ist.
(Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Frau Kollegin, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Ja. Ich bin gleich beim Schluss.
Nach Ablauf der Redezeit ist keine Zwischenfrage mehr erlaubt.
Ich will mit diesen Hinweisen auf keinen Fall den Eindruck erwecken, die anstehenden Aufgaben für eine psychotherapeutische Betreuung der Flüchtlinge könnten nicht bewältigt werden. Sie können bewältigt werden, wenn es uns gelingt, die hierfür vorhandenen Kräfte koordiniert und möglichst frei von bürokratischen Hemmnissen einzusetzen. Dazu müssen die Stellen von Bund, Ländern und Kommunen sowie die gesellschaftlichen Ressourcen engagiert zusammenarbeiten und neben den anerkannten Kompetenzen beim Organisieren auch die Tugend der Improvisation reichlich bedienen.
Frau Kollegin Bertram, das geht jetzt zulasten der Redezeit Ihrer Kollegin.
(Emmi Zeulner [CDU/CSU]: Das ist okay!)
Jetzt ist die Zeit zupackenden Helfens. Wir werden daraus lernen können. Darüber diskutieren wir danach.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vielen Dank. – Als Nächste hat Kathrin Vogler, Fraktion Die Linke, das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/5854451 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 125 |
Tagesordnungspunkt | Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen |