01.10.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 127 / Tagesordnungspunkt 3 + ZP 2

Boris Pistorius - Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben derzeit mit den seit Generationen größten Flüchtlingsbewegungen nach Europa und insbesondere auch nach Deutschland zu tun. Unser Land lebt zu Recht seit Jahrzehnten das Asylrecht als einen wesentlichen Teil seiner Staatsräson. Es entspricht unserer historischen Verantwortung, dass wir unser Möglichstes tun, um Flüchtlingen Sicherheit vor politischer Verfolgung und Krieg zu gewähren.

Seit Beginn des Jahres haben wir ununterbrochen anhaltend hohe Flüchtlingszahlen, Zahlen, die mittlerweile – ich wähle dieses Wort ganz bewusst – exponentiell zunehmen. Bis vor kurzem konnten wir uns die Ankunft von Menschen in der Größenordnung der letzten Wochen nicht einmal annähernd vorstellen. Die Flüchtlingspolitik in Deutschland wird dadurch eine enorme, vielleicht sogar die Herausforderung der nächsten Jahrzehnte. Die Flüchtlingspolitik in Deutschland ist zu einem Kristallisationspunkt der Zukunft dieses Landes und damit auch seiner Politik geworden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe immer wieder, auch auf Bundesebene, nachdrücklich unterstrichen: Wir haben hier eine nationale, eine gesamtstaatliche, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu bewältigen. Lassen Sie mich deshalb zunächst feststellen: Viele Menschen, Haupt- und Ehrenamtliche auf allen Ebenen – in den Ländern, in den Kommunen, im Bund –, leisten Großartiges.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und noch etwas: Unser Land hat bei der Bewältigung dieser Aufgabe schon viel, viel mehr geleistet, als von so manchem Berufspessimisten in diesem Land erwartet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Allerdings ist es Realismus und nicht Pessimismus, wenn wir feststellen müssen: Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir uns ehrlich sagen müssen: Es gibt Grenzen der Aufnahmegeschwindigkeit und der Aufnahmezahl, selbst trotz des großartigen Engagements in unserem Land; und damit rede ich nicht der Parole das Wort, das Boot sei voll. Wir haben eine rechtliche, eine menschliche Verpflichtung, unser Asylsystem nach allen Kräften des Staates und der Gesellschaft arbeitsfähig und funktionsfähig zu halten. Wir müssen begreifen: Unser Asylrecht kann nur dann effektiv wirken, wenn wir seine Grenzen respektieren, Grenzen, die trotz aller menschlich möglichen Anstrengungen erkennbar in Teilen erreicht und überschritten sind. Deswegen sage ich sehr deutlich: Der Gesetzentwurf des Bundesinnenministers schwächt nicht das Recht auf Asyl. Richtig umgesetzt und richtig beraten kann das Gesetz einen Beitrag dazu leisten, seine Gewährleistung zu sichern, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Auch wenn wir uns verantwortungsethisch verhalten, verhalten wir uns ethisch. Das sage ich allen, die leider die Augen vor der Realität verschließen. Ein großer Schritt, ein wichtiger Schritt, aber eben nur ein Schritt von vielen notwendigen ist das heute hier vorliegende Gesetzespaket. Ich bin allen Beteiligten, insbesondere der Bundesregierung, den sie tragenden Fraktionen und den Ministerpräsidenten der Länder, sehr dankbar, dass sie sich beim Gipfel über Maßnahmen verständigen konnten, die helfen können und müssen, die Flüchtlingspolitik zu ordnen und zu strukturieren und Länder und Kommunen finanziell zu entlasten.

Ebenso wichtig wie die finanzielle Entlastung der Länder und Kommunen ist die zumindest vorübergehende Beseitigung bürokratischer Hindernisse, die die zügige Inbetriebnahme dringend benötigter Unterkünfte beinhaltet. Ich sage deshalb auch Danke dafür, dass die niedersächsische Bundesratsinitiative bereits vor ihrer Beschlussfassung Umsetzung erfahren hat. Auch das erlebt man nicht alle Tage.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber, meine Damen und Herren, wo es Licht gibt, da gibt es auch Schatten. Die Länder müssen sich darauf verlassen können, dass die Bundesregierung die Verabredungen des Gipfels umsetzt – nicht mehr und nicht weniger. Das heißt, wir müssen getroffenen Vereinbarungen trauen können.

(Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Ich will nur drei Stichpunkte nennen, über die wir werden reden müssen: Ein Aspekt sind die nicht vereinbarten Verschärfungen beim Zugang zur Härtefallkommission.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Von Bedeutung ist auch die Ermessensausübung, ob Sachleistungen an die Stelle von Geldleistungen treten – das ist nämlich keineswegs so, wie sich der eine oder andere das vorstellen mag –; auch darüber wird zu reden sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Dreh- und Angelpunkt ist aber die – entschuldigen Sie den Ausdruck – naive Annahme, man könnte durch Gesetz beschließen, Menschen länger in Erstaufnahmeeinrichtungen zu lassen, weil sie aus sicheren Herkunftsstaaten kommen oder Asylfolgeantragsteller sind. Letzteres ist übrigens ebenfalls nicht Gegenstand der Vereinbarung von letzter Woche.

Ich sage Ihnen: Ein Blick in die Erstaufnahmeeinrichtungen wird Ihnen zeigen, dass sie auf Sicht nicht in der Lage sind, die weiter hinzukommenden Menschen aufzunehmen, und sie sind erst recht nicht in der Lage, die Menschen, die aus sicheren Herkunftsländern kommen, bis zu ihrer Rückführung dann auch noch länger bei sich zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das werden wir auf Sicht nicht leisten können, und das muss allen klar sein.

(Thomas Strobl (Heilbronn) [CDU/CSU]: Noch nicht beschlossen!)

Die Kapazitäten sind erschöpft, und es ist illusorisch, anzunehmen, dass die Probleme durch niedersächsische, hamburgische, bayerische oder sogar kommunale Modelle gelöst werden können. Es ist auch illusorisch, anzunehmen, dass wir die nächsten Wochen ohne eine erneute große Kraftanstrengung aller staatlichen Ebenen bewältigen können. An dieser Stelle übrigens Dank an die Bundeswehr, die an vielen Standorten hervorragend unterstützt und ohne die wir viele Dinge nicht mehr leisten könnten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei Betrachtung dieses Gesetzespakets sage ich: Wir sind nicht am Ende der Lösung und der Diskussionen, sondern wir stehen am Anfang einer riesigen Aufgabe. Deswegen brauchen wir auch das Bekenntnis, dass es ebenso illusorisch wäre, zu glauben, die größtenteils ehrenamtlich tätigen Angehörigen der Hilfsorganisationen könnten noch Monate so weitermachen. Das können sie nicht. Gleiches gilt für die Hauptamtlichen und für viele andere mehr.

Es ist auch illusorisch, anzunehmen, dass die Fluchtursachen hinreichend bekämpft wären, dass die Unterstützung für die Flüchtlingslager im Nahen Osten und die beschlossenen Maßnahmen der EU auch nur annähernd ausreichend wären und dass die Verteilung der Flüchtlinge in der EU auch nur ansatzweise befriedigend gelöst wäre.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Daneben ist es auch illusorisch, anzunehmen – damit komme ich zum Schluss –, dass wir keinen europäischen oder bundesdeutschen Plan B für den Fall brauchen, dass die Zahl der Flüchtlinge weiter steigt und wir den Unterbringungsnotstand feststellen müssen.

Dieses Land und seine Menschen haben in dieser Situation bis jetzt schon Großartiges geleistet. Wir haben mehr geschafft, als viele für möglich gehalten haben. Um die tagtägliche und in diesem Fall äußerst sinnvolle und menschlich wertvolle Sisyphusaufgabe zu meistern, braucht unser Land weitere große und noch größere Anstrengungen, noch größere Taten der Länder und Kommunen und besonders deutlich auch operative Taten des Bundes – auch bei der Flüchtlingsunterbringung und der Steuerung der Ströme.

Meine Damen und Herren, es reicht nicht, zu sagen: „Wir schaffen das“. Die Menschen wollen von uns hören, was genau und wie viel wir schaffen, und vor allen Dingen wollen sie wissen, wie wir es schaffen.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Weiler das Wort.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5888771
Wahlperiode 18
Sitzung 127
Tagesordnungspunkt Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise
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