Michelle MünteferingSPD - Aktuelle Stunde zur Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag in Ankara
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele von uns sind der Türkei verbunden und kennen das Land gut. Mit über 3 Millionen türkischstämmigen Menschen im Land haben viele Deutsche enge Bande, Bekannte, Verwandte, Familie in der Türkei.
Auch ich war letzte Woche in Ankara und in Istanbul. Dort habe ich mit Politikern gesprochen, natürlich auch mit Oppositionellen, mit Wissenschaftlern, habe die Türkisch-Deutsche-Universität besucht, für die sich Rita Süssmuth schon seit vielen Jahren einsetzt, habe Künstler und Unternehmer getroffen sowie Wahlbeobachter. Bei diesen Gesprächen hat sich eine junge Türkei, eine moderne Türkei gezeigt. Aber es kam eben auch genau die Sorge zum Ausdruck, die hier beschrieben worden ist: um Sicherheit, um Demokratie, um die Einschränkung der Presse- und der Meinungsfreiheit. Diese Sorge teile ich ausdrücklich. Gerade wenn man auf die letzten 15 Jahre der Türkei blickt, dann gab es auch viel Licht. Es gab Wachstum und Entwicklung. Es wurden Universitäten gebaut. Aber heute ist die Türkei tief gespalten.
Erst vor einigen Wochen hat der türkischstämmige Genetiker Aziz Sancar, der heute in Amerika lebt und arbeitet, für seine Studien zur DNA-Reparatur den Chemienobelpreis erhalten; ein wichtiger Preis und eine große Auszeichnung. Aber im Internet – so hat es auch die New York Times beschrieben – wurde ihm nicht gratuliert, sondern über seine kurdische Herkunft diskutiert. Das ist die Polarisierung der Gesellschaft in der Türkei, die wir derzeit politisch erleben. Sie reicht bis in die Zivilgesellschaft hinein. Staatspräsident Erdoğan, der den Friedensprozess einst selbst begonnen hat, will davon jetzt nichts mehr wissen. Obwohl er bei der Wahl am 7. Juni dieses Jahres die Legitimation verfehlt hat, versucht er weiterhin, die Macht auf sich zu vereinen und ein Präsidialsystem zu errichten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit Kobane und Suruç eskaliert wieder die Gewalt – das haben wir hier gehört –, zu der auch die PKK mit terroristischen Anschlägen beiträgt. Es brennen Parteibüros der HDP. Menschen werden bedroht, weil sie Kurden sind, auch wenn sie mit den Terroranschlägen gar nichts zu tun haben. Türkische Polizisten und Zivilisten sind bereits gestorben. Wem das nützt, das kann momentan niemand genau beantworten. Sicher ist nur, wem es schadet: Die Familien in der Türkei tragen wieder Trauer und Leid.
Der traurige Höhepunkt war der verheerende Anschlag in Ankara. Wir wissen noch nicht, wer diesen Anschlag verübt hat, ob es die Terroristen von Da‘isch, also ISIS, waren.
(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Wir wissen das!)
Wir wissen aber, dass es ein Anschlag auf den Frieden und auf die Demokratie in der Türkei war. Jetzt müssen die Täter gefunden, vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Sie dürfen nicht davonkommen. Ich spreche der Türkei mein aufrichtiges Beileid aus. Ich hoffe, ich spreche es richtig aus –: Türkiye ba ş iniz sa ğ olsun!
Sehr geehrte Damen und Herren, die Türkei hat mehr Menschen aufgenommen – über 2 Millionen Flüchtlinge – als jedes andere Land. Das ist richtig. Wenn wir jetzt mit der Türkei über die Flüchtlingskrise, die Eindämmung von Fluchtursachen und gemeinsame Strategien im Syrien-Konflikt verhandeln, dann müssen wir das mit Respekt und auf Augenhöhe tun, aber wir müssen uns auch fragen lassen, wer eigentlich die legitimen Ansprechpartner sind. Das sage ich auch in Richtung der EU. Präsident Erdoğan zumindest schreibt die Verfassung eine neutrale Rolle zu.
(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)
Es ist klar: Wir brauchen den Dialog. Wir haben ihn sogar zu oft vernachlässigt. Aber die Botschaft dabei dürfen wir nicht vergessen. Sie muss heißen: Es muss Frieden geben. Die Waffen müssen schweigen. Der Friedensprozess muss wieder aufgenommen werden. Und es braucht jetzt freie, demokratische und faire Wahlen in allen Teilen der Türkei.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Kolleginnen und Kollegen, vorher können wir miteinander reden, aber wir sollten keine weitreichenden Entscheidungen treffen. Denn unsere Interessen dürfen nicht zu Wahlkampfhilfen vor dem 1. November werden. Deswegen warne ich davor, zu weit gehende Zugeständnisse zu machen. Denn an erster Stelle steht ganz klar die Zukunft der Türkei, und diese nehmen die Türkinnen und Türken am 1. November selbst in die Hand.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Kollegin Müntefering. – Nächster Redner in der Debatte: Cem Özdemir für Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/5969640 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 129 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde zur Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag in Ankara |