Dietmar NietanSPD - Aktuelle Stunde zur Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag in Ankara
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich dem türkischen Volk mein tiefempfundenes Mitgefühl ausdrücken für die vielen Opfer schrecklicher Terroranschläge, nicht nur des letzten Anschlags in Ankara. Wir sind bei den Angehörigen der Opfer. Wir werden die Opfer, die sich für Frieden und Freiheit eingesetzt haben, nicht vergessen.
Genauso möchte ich dem türkischen Volk für seine Gastfreundschaft und für seinen Einsatz für die Flüchtlinge an den türkischen Grenzen ausdrücklich danken. Die Türkei leistet schon über einen sehr langen Zeitraum eine enorme humanitäre Hilfe. Ich finde, es ist an der Zeit, der Türkei dafür ausdrücklich einen großen Dank auszusprechen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es ist von vielen Kolleginnen und Kollegen gesagt worden, zum Beispiel von Michelle Müntefering und Roderich Kiesewetter, dass wir die Türkei aber auch als ein zerrissenes Land erleben. Wir müssen mit ansehen, wie die Konflikte munitioniert werden, wie Hass und Gewalt weiter um sich greifen. Alle Seiten in den Konflikten, die es in der türkischen Gesellschaft gibt, haben eine besondere Verantwortung dafür, alles zu tun, um diese Spirale von Hass und Gewalt zu durchbrechen. Ich glaube, dass eine herausragende Verantwortung in diesem Prozess bei dem derzeit amtierenden Staatsoberhaupt liegt. Es kann nicht sein, dass unwidersprochen durch den Staatspräsidenten der Türkei hohe Funktionäre der AKP mehr oder weniger zur Hatz auf Andersdenkende aufrufen, mehr oder weniger unverhohlene Morddrohungen gegenüber kritischen Journalisten aussprechen und das Staatsoberhaupt dieses Landes dazu schweigt.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wenn es nur das Schweigen wäre! Nein, Erdoğan selbst ist derjenige, der aus eigenen Motiven, weil er glaubt, damit im Chaos die Menschen vielleicht doch dazu bewegen zu können, ein anderes Wahlergebnis herbeizuführen, Hass, Denunziation und Verschwörungsgerüchte schürt, anstatt das zu tun, was ein Staatsoberhaupt zu tun hat, nämlich sein Volk zu versöhnen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich finde, dass dies nicht akzeptabel ist. Deshalb sage ich an dieser Stelle sehr deutlich: Ja, es ist richtig, mit den türkischen Freunden darüber zu reden, wie wir in vielen Fragen zusammenarbeiten, aber – das betone ich ausdrücklich – eben nicht nur in der Frage, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen. Ja, es ist richtig, über Visafreiheit zu reden. Ich halte es auch für eine gute Idee, darüber nachzudenken, Verhandlungskapitel im Beitrittsprozess zu eröffnen. Ich fände es sehr schön, wenn zum Beispiel das Rechtsstaatskapitel eröffnet würde. Ich stelle mir spannende Diskussionen darüber vor, wie die Türkei gedenkt, den entsprechenden Acquis communautaire der Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union zu übernehmen. Das, was wir jetzt erleben, ist das genaue Gegenteil davon.
Ja, ich finde es richtig, dass die türkische Republik darauf hinweist, dass es durchaus unter Partnern – und wir sehen die Türkei als Partner – an der Zeit ist, die Türkei bei ihren enormen humanitären Unterstützungen für die Flüchtlinge auch von unserer Seite zu unterstützen. Allerdings sage ich an dieser Stelle auch, dass ich hellhörig werde, wenn die Durchsetzung einer Sicherheitszone und freie Hand im Kurdenkonflikt in einem Atemzug als Bedingung genannt werden. Das sieht so aus, als möchte jemand den Freifahrtschein dafür bekommen, die polarisierende Politik, die er jetzt betreibt, am besten noch mit militärischen Mitteln fortzusetzen. Auf ein solches Spiel dürfen wir uns nicht einlassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich sage sehr deutlich: In dem Moment, in dem die Türkei ein sicherer Herkunftsstaat ist, werde ich der Erste sein, der dafür plädiert, sie als solchen zu deklarieren. Aber machen wir uns doch nichts vor: Das, was wir jetzt in der Türkei an Verletzungen von Menschenrechten und Versuchen, die kritische Presse endgültig mundtot zu machen, erleben – unter staatlicher Duldung oder teilweise sogar vom Staat initiiert –, sind alles Vorgänge, die man nicht außer Acht lassen kann. Wenn dies sich nicht ändert, macht man sich geradezu lächerlich, wenn man irgendwo von europäischen Werten spricht und diesem Land, wie es jetzt ist, den Status eines sicheren Herkunftsstaates gibt.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Deshalb lassen Sie mich abschließend sagen: Ja, es ist richtig, dass die Bundeskanzlerin auch mit Herrn Erdoğan spricht. Ich möchte es diplomatisch ausdrücken: Sie nimmt damit vielleicht nicht die verfassungstheoretische, aber die tatsächliche Lage in der Türkei zur Kenntnis, nämlich mit wem man dort zu sprechen hat. Allerdings – das will ich deutlich sagen – muss die Bundeskanzlerin alles dafür tun, dass ihr Besuch nicht auch nur den Anschein erweckt, dass er die Einleitung eines Kuhhandels ist, weil wir Angst vor hohen Flüchtlingszahlen haben. Wenn die Bundeskanzlerin mit dem türkischen Staatspräsidenten spricht, dann muss sie mit ihm darüber sprechen, dass wir die Partnerschaft zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland erneuern. Dazu gehört auch, dass wir unter Partnern und Freunden sagen: Herr Erdoğan, werden Sie Ihrer Verpflichtung gegenüber dem türkischen Volk gerecht. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Vorgänger Gül. Tragen Sie dazu bei, dieses Land zu versöhnen und nicht weiter zu polarisieren.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Kollege Nietan. – Nächster Redner: Michael Vietz für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 129 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde zur Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag in Ankara |