14.10.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 129 / Zusatzpunkt 1

Klaus BrähmigCDU/CSU - Aktuelle Stunde zur Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag in Ankara

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Sehr geehrte Frau Präsidentin Roth! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Anwesende! Auch mein erster Gedanke gilt den Opfern des Anschlages vom 10. Oktober in Ankara. Wie verkommen und feige muss ein Mensch bzw. eine politische Gruppierung sein, die mit einem Bombenanschlag bei einer Friedensdemonstration fast 100 Tote und 246 Verletzte verursacht? Dieser Anschlag soll wohl noch stärker Hass und Zwietracht in ein Land hineintragen, das eigentlich dringend Aussöhnung zwischen den Ethnien und Religionen benötigt.

Die russische Wirtschaftsflaute, der Krieg im Nachbarland Syrien und die Kämpfe mit der kurdischen PKK hielten bereits diesen Sommer Touristen von der Türkei fern. Nach Berichten der Zeitung Hürriyet brachen die Einnahmen der türkischen Tourismusbranche im zweiten Quartal um fast 14 Prozent ein. Das entspricht einem Verlust von umgerechnet 6,8 Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahr.

Ich zitiere aus den derzeitigen Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes zur Lage in der Türkei:

Landesweit ist mit einer Zunahme der politischen Spannungen zu rechnen, weitere Anschläge oder gewaltsame Auseinandersetzungen sind nicht ausgeschlossen. Es wird daher nochmals dringend darauf hingewiesen, dass sich Reisende von Demonstrationen, Wahlkampfveranstaltungen und größeren Menschenansammlungen, insbesondere in größeren Städten, fernhalten sollten.

(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein sicheres Herkunftsland!)

Ein schreckliches Bild angesichts der Tatsache, dass der Tourismus im Jahr 2015 etwa 10,6 Prozent zum BIP der Türkei beitragen wird.

Wer auch immer in der Türkei mit Terror arbeitet, legt damit die Axt an eine der wichtigsten Wurzeln des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs des Landes. Alle politischen Kräfte, die ein wirkliches Interesse am Wohlergehen der gesamten Bevölkerung in der Türkei haben, sind daher aufgerufen, deeskalierend zu wirken und nicht noch weiter Hass und Zwietracht zu säen.

Meine Damen und Herren, kein Nachrichtendienst, kein Staatsmann und kein Journalist haben bisher Beweise für irgendwelche Verstrickungen des „Islamischen Staates“, eine Beteiligung nationalistischer Kräfte oder der PKK offengelegt. Insofern handelt es sich in die eine wie in die andere Richtung um eine Vorverurteilung. Die Terroristen sind es, die das Land mit ihren Anschlägen spalten wollen. Es widerspricht geradezu dem letzten Willen der Opfer, wenn sich im Nachgang alle politischen Kräfte gegenseitig verdächtigen und damit noch mehr Unfrieden stiften. Gerade das war ja nicht der Sinn der Demonstration, bei der das feige Attentat geschah.

Sehr geehrte Damen und Herren, in den letzten Jahren hat es teilweise ermutigende Zeichen gegeben, dass sich die Türkei im Rahmen der Verhandlungen zum EU-Beitritt auf einen Prozess zur Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und Anerkennung der Menschenrechte eingelassen hat. Dieser Weg sollte fortgesetzt und beschleunigt werden.

Ein Beispiel, das geradezu nach Beschleunigung der Bemühungen ruft, ist die immer noch angespannte Lage der Christen in der Türkei. Anfang dieses Jahres berichtete die Weltpresse über die Genehmigung eines Kirchenneubaus der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Istanbul. Die Nachricht war ein großer Propagandaerfolg der Türkei. Viele internationale Medien haben es als Sensation dargestellt, dass die Kirche gebaut werden darf. Ein paar Tage später stellte sich dann heraus, dass der Bauantrag bereits vor drei Jahren gestellt wurde und das Projekt seit dieser Zeit totgeprüft wird. Mittlerweile wird die Halbierung der Grundfläche von 900 Quadratmetern zur Auflage gemacht. Zum Vergleich: Der Bau einer im gleichen Stadtteil befindlichen Moschee auf 30 000 Quadratmetern war Anfang dieses Jahres fast abgeschlossen – davon kein Wort in der Weltpresse.

Ich persönlich kann nur alle politischen Kräfte in der Türkei dazu aufrufen, gerade die Anerkennung ethnischer und religiöser Minderheiten aktiv fortzusetzen.

(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht die HDP! Die soll die Kanzlerin besuchen!)

Wenn circa 18 Prozent der Bevölkerung der Türkei Kurden sind, spreche ich nicht mehr von einer klassischen ethnischen Minderheit. Das Verhältnis zwischen der Mehrheit und dieser doch sehr beachtlichen Minderheit entscheidet leicht auch über das Weh und Wohl des gesamten Staates. Eine gute Zukunft für alle in der Türkei lebenden Bevölkerungsgruppen gibt es nur, wenn das Motto „Wir zusammen“ lautet.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich finde es sinnvoll und begrüße es, dass unsere Kanzlerin Angela Merkel im Zuge der Flüchtlingskrise am kommenden Wochenende der Türkei einen Arbeitsbesuch abstatten wird.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wer hätte das gedacht?)

Eine Stabilisierung der gesamten Region muss im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und Europas sein. Für mich ist beispielsweise unstrittig, dass die Europäische Union – auch Deutschland – der Türkei ein Entgegenkommen bei der Unterstützung zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zeigen sollte; denn über 2 Millionen Flüchtlinge leben in türkischen Flüchtlingsunterkünften. Weitere 7 Millionen Binnenflüchtlinge, die noch in dem Bürgerkriegsland sind, könnten jederzeit in die Türkei ausreisen. Wer also die Flüchtlingskrise lösen will, der braucht auch die Türkei. Es ist ein Schlüsselland in der Region.

Nach meinen Informationen ist derzeit ein EU-Beitritt nicht unbedingt das vorrangige Ziel der türkischen Regierung. Dieser Beitritt wäre meines Erachtens aktuell auch nicht verhandelbar. Bei Themen wie Meinungs- und Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Schutz der Minderheiten muss die Türkei sich deutlich bewegen.

(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)

Viel Verhandlungsgeschick wünsche ich unserer Kanzlerin; denn eine heimat- und kulturnahe Unterbringung, die den Flüchtlingen nach einer Befriedung ihrer Länder eine schnelle Heimkehr ermöglicht, halte ich für die beste Lösung. Für mich ist diese Lösung alternativlos.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5969751
Wahlperiode 18
Sitzung 129
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zur Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag in Ankara
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