15.10.2015 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 130 / Tagesordnungspunkt 4

Volker KauderCDU/CSU - Regierungserklärung zum Europäischen Rat

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Anlass für die heutige Debatte und die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin ist eine Sitzung des Europäischen Rates heute und morgen. Da steht natürlich in erster Linie die Frage „Was tut Europa in einer der größten Herausforderungen in der Nachkriegsgeschichte?“ auf der Tagesordnung. Wir alle wissen: Bei allem, was wir national tun – darauf werde ich noch kommen –, werden wir diese Herausforderung nicht allein von Deutschland aus, sondern nur in und mit Europa bewältigen können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Umgang mit dieser Situation – das muss jeder in Europa wissen – entscheidet auch darüber, ob die Menschen noch Vertrauen in Europa setzen und hier eine Zukunftsperspektive sehen. Europa muss wissen: Wenn jetzt keine richtige Antwort kommt, dann werden sich viele fragen, welchen Sinn Europa überhaupt noch hat. Deshalb ist es richtig, was die Bundeskanzlerin vorhin gesagt hat. Man muss alles daransetzen, dass sich Europa dessen auch bewusst ist.

Es kommt jetzt darauf an, dass Europa erkennt, dass man nicht im Kleinteiligen groß sein kann, aber im Großen kleinteilig bleibt. Das ist die entscheidende Herausforderung, um die es nun geht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Da wünschen wir Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, natürlich viel Erfolg und Überzeugungskraft.

Dazu gehört auch, dass sich Europa in der Flüchtlingspolitik noch einmal neu sortiert. Die Sicherung der Außengrenzen und Dublin III funktionieren im Augenblick nicht richtig. Vielleicht muss man auch sagen: Schengen kann nur funktionieren, wenn jeder seine eigene Außengrenze sichert. Solange es um ein paar Tausend Flüchtlinge geht, mag dies jeder kleinere Staat mit Außengrenze schaffen, aber wenn es um Hunderttausende geht, zeigt sich, dass dies nicht zu machen ist.

Deswegen dürfen wir – dazu brauchen wir eine klare Aussage – die Sicherung der Außengrenzen nicht allein in nationalstaatliche Verantwortung geben, sondern da trägt Europa eine gemeinsame Verantwortung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dazu muss sich Europa bekennen. Das wird natürlich Geld kosten. Aber ich kann gut nachvollziehen und verstehen, dass Länder wie Italien, Griechenland und andere, die eine Außengrenze haben, sagen: Den Deutschen fällt es leichter, über die Sicherung von Schengen zu sprechen, weil sie keine Schengen-Außengrenze haben. Darauf antworte ich: Wir sind bereit, mitzuhelfen, dass Europa seine Außengrenzen sichern kann, dass dies auch in Zukunft so geschieht, wie es notwendig ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch darüber muss gesprochen werden, Frau Bundeskanzlerin. Da ist, salopp gesagt, höchste Eisenbahn geboten, damit in der Welt klar wird: Europa ist bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Europa ist aber auch bereit, die beschlossene Sicherung der Außengrenzen durchzuführen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist richtig, darüber zu reden, dass wir den Ländern, die erste Anlaufstellen sind – Italien, Griechenland –, bei der Registrierung und Unterbringung von Flüchtlingen helfen.

In Richtung der Grünen sage ich: Ich habe wenig Verständnis, wenn man – der Begriff „Hotspot“ ist wirklich nicht besonders toll, vielleicht fällt einem da auch ein verständlicherer Name ein – die Erstaufnahmeeinrichtungen als Anstalten diffamiert. Nein, das sind notwendige Maßnahmen, um den Flüchtlingsstrom koordinieren zu können. Deswegen unterstützen wir – ich denke, die Regierung und die Koalition insgesamt – den Aufbau solcher Erstaufnahmeeinrichtungen in Griechenland und in Italien mithilfe der EU.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn der Satz richtig ist, dass Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit beginnt, dann ist es doch völlig klar – wenn man sich diese Wirklichkeit anschaut –, dass die Türkei, wie die Bundeskanzlerin zu Recht formuliert hat, eine wesentliche Rolle spielt. Jetzt kann man sagen: Die Türkei spielt zwar eine wichtige Rolle – wenn sie ihre Aufgabe nicht so wahrnimmt, wie wir glauben, dass sie wahrgenommen werden muss, dann wird das Chaos riesengroß –, aber egal; wir reden nicht mit denen. – Dies ist aber eine Form von Politikverweigerung, der wir uns nicht anschließen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Frau Göring-Eckardt, nach der Rede der Bundeskanzlerin wäre der Hinweis auf die besondere Situation in der Türkei gar nicht mehr notwendig gewesen.

(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, gerade! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Frau Kollegin Roth, das machen wir untereinander aus.

(Heiterkeit – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt verliert er 100 Prozent!)

Es ist doch wirklich bemerkenswert mutig, wenn die Bundeskanzlerin sich in aller Öffentlichkeit an dieses Rednerpult stellt und sagt: „Ich werde, weil es notwendig ist, mit der Türkei reden. Aber es wird kein Thema ausgeblendet. Das geht bis hin“ – wie formuliert worden ist – „zur Situation der Menschenrechte.“ Da kann ich nur sagen: Respekt, wenn man so etwas öffentlich formuliert – und weiß, dass dies im Zweifel auch Erdoğan hört –, weil man weiß, dass man diese Aufgabe anpacken muss. Auch dafür wünschen wir viel Erfolg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist aber nicht nur eine große Herausforderung in Europa, sondern es ist auch eine große Herausforderung in unserem Land. Darüber ist schon mehrfach gesprochen worden, und darüber werden wir auch beim nächsten Tagesordnungspunkt sprechen, bei dem es um das Asylpaket geht. Ich bin froh, dass wir diese Vereinbarungen haben treffen können, auch mit den Bundesländern.

Bei manchem, das wir jetzt erreicht haben, haben wir uns vor einigen Wochen noch gar nicht vorstellen können, dass es erreicht werden könnte. Deshalb kann ich nur sagen: Wir sind handlungsfähig – ein entsprechendes Signal geben wir auch –, aber wir verschließen uns auch nicht den Fragen der Kommunen und der Menschen. Wir reden mit den Menschen und den Vertretern der Kommunen über das, was getan werden muss.

Beispielsweise haben wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für heute Nachmittag die Landräte sowie die Oberbürgermeister der kreisfreien Städte eingeladen – unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Weit über 200 werden da sein. Wir werden mit ihnen reden und ihnen sagen, was wir jetzt auf den Weg bringen. Manche Forderung, manche kritische Anmerkung ist zu einem Zeitpunkt gemacht worden, als dieses Paket noch gar nicht verabschiedet war und es natürlich auch noch nicht wirken konnte. Darüber werden wir mit den Menschen reden. Ich finde, es ist notwendig, dass man mit den Leuten redet und ihnen auch sagt: Das und das haben wir vor. – Wir dürfen die Katastrophenstimmung nicht immer weiter verstärken, sondern müssen sagen: Wir haben Möglichkeiten, zu handeln, um die Dinge zu verbessern.

Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen – da gebe ich Ihnen recht –, ist wichtig, damit so Sachen wie die Radikalisierung bei Pegida nicht noch weiteren Zulauf bekommen. Ich teile die Kritik. Was dort geschehen ist, geht überhaupt nicht. Galgen zu zeigen, Schilder dranzuhängen, das ist in einer Demokratie unwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber man darf auf keinem Auge blind sein. Ich fand auch nicht in Ordnung, was die TTIP-Gegner gemacht haben. Eine Guillotine aufzubauen, das ist um kein Haar besser, als einen Galgen zu zeigen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Beides geht nicht. Beides muss auch klar angesprochen werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin einigermaßen überrascht und auch ohne Verständnis, wenn ich von den ganzen Dingen höre, die mit dem World Food Programme und dem UNHCR zu tun haben. Wie viele andere habe ich Flüchtlingslager im Nahen und Mittleren Osten besucht und mir dort ein Bild verschafft. Dabei hatte ich eindrückliche Begegnungen mit Menschen, die aus dem Süden Syriens kamen, also nicht aus der Gegend um Aleppo herum, mit einfachen Menschen, die mir mittels Dolmetscher gesagt haben: Wir sind Fellachen, kleine Bauern. Wir können nicht lesen, wir können nicht schreiben. Deswegen glauben wir nicht daran, dass eine Zukunft in Europa für uns einfach sein würde. Wir möchten gerne wieder in unser Land, nach Syrien zurück, wenn dort der Bürgerkrieg zu Ende ist. Deswegen sind wir hier an der Grenze zu Syrien – in Jordanien beispielsweise.

Wenn diese Menschen aber nun erfahren, dass ihnen die Rationen für Essen und die Mittel, die notwendig sind, um das tägliche Leben zu fristen, von 36 Dollar auf 16, 15 und dann auf unter 10 Dollar gekürzt werden, machen sie sich natürlich auch Gedanken, ob sie es unter diesen Umständen drei Jahre aushalten können oder nicht. Wenn man also etwas als Skandal bezeichnen kann, dann ist das ein Skandal, was da in den Flüchtlingslagern passiert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen erwarte ich, Frau Bundeskanzlerin, dass auch das heute Abend im Europäischen Rat angesprochen wird und die Regierungen einmal nachfassen, wann das Geld nun zur Verfügung gestellt worden ist.

Frau Wagenknecht, Sie haben kritisiert, dass man nur 1 Milliarde Euro gebe. Ich will Ihnen dazu einmal sagen: „Sie müssen genau hinhören“, und sollten nicht nach dem Motto verfahren: Ideologisch höre ich das, was ich will. – Es ist ausdrücklich gesagt worden: Das Geld, was nötig ist, um ordentliche Existenzen für die Flüchtlinge zu sichern, wird auch gegeben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es bleibt nicht bei der 1 Milliarde, wenn sich herausstellen sollte, dass mehr nötig ist. Das machen wir dann schon.

Aber ich will wissen, warum es so lange braucht, bis das Geld ankommt. Wenn die EU Geld gegeben hat – darunter 100 Millionen Euro von Deutschland –, jetzt 350 Millionen Euro und dann 1 Milliarde Euro, warum braucht es dann so lange, bis das Geld ankommt? Dazu kann ich nur sagen: Neben der konkreten Aufgabe, die wir hier haben, ist natürlich die Bekämpfung von Fluchtursachen eine wichtige Aufgabe. Es wird aber nicht möglich sein, in kurzer Zeit alle Fluchtursachen zu beseitigen. Aber eine Fluchtursache für die Menschen in den Flüchtlingslagern ist auf jeden Fall dann gegeben, wenn sie den Eindruck haben, mit ihnen werde nicht anständig umgegangen. Hier kann man schnell Abhilfe schaffen; das kann schon morgen geschehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und das erwarten wir auch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben mit dem Paket, das nachher beraten und verabschiedet wird, gezeigt, dass wir in diesem Land, wenn die Aufgaben groß sind, auch verantwortlich handeln können. Wahrscheinlich ist es schon so, Kollege Oppermann, dass man, wenn man vor einer bestimmten Aufgabe steht, auch spürt, welche Verantwortung man hat. Und deswegen, weil sie die Verantwortung spüren, sind grüne Oberbürgermeister in Baden-Württemberg und ein grüner Ministerpräsident bei diesem Paket dabei. Die Grünen hier im Bundestag sind in der Opposition. Okay. Ich erinnere mich aber noch sehr gut daran, dass wir als Union, als wir in der Opposition waren und es um große Aufgaben in der Außenpolitik ging, gesagt haben: Da machen wir mit. Auch wenn die SPD und die Grünen regieren, machen wir da mit, um zu zeigen, dass wir zusammenstehen. – Das hätte ich eigentlich in dieser Situation von Ihnen erwartet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielleicht sind ja meine Informationen nicht ganz richtig. Deswegen will ich mich korrigieren und sagen: Das erwarte ich von Ihnen.

(Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Ganz ruhig. Ich war doch ganz friedlich. Ich habe doch nur eine Erwartung geäußert. Das werde ich doch noch tun dürfen. Aber wenn Sie mich schon provozieren, dann muss ich Ihnen sagen: Enthaltung hat mit Verantwortung in schwerer Zeit nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Das ist es!)

Frau Bundeskanzlerin, viel Erfolg heute Abend. Es steht viel auf dem Spiel: dass sich Europa in einer schwierigen Zeit als handlungsfähig erweist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nächster Redner ist der Kollege Norbert Spinrath für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)


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Electoral Period 18
Session 130
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