12.11.2015 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 136 / Tagesordnungspunkt 12

Dagmar SchmidtSPD - Menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum

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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem wichtigen Thema, das den Bundestag alle fünf Jahre erneut fordert; denn alle fünf Jahre werden die Regelsätze für Leistungen des SGB II und des SGB XII neu festgelegt. Und das ist deswegen ein wichtiges Thema, weil davon fast 10 Prozent der Menschen in Deutschland direkt betroffen sind. Aber eigentlich sind es noch mehr; denn mit den Regelsätzen im SGB II, der Grundsicherung für Arbeitsuchende, und im SGB XII, der Sozialhilfe, wird auch die Höhe des steuerfreien Existenzminimums festgelegt, was wiederum alle steuerpflichtigen Menschen in Deutschland betrifft.

Wo stehen wir gerade? Das Statistische Bundesamt hat im September dieses Jahres die Datenaufbereitung zum privaten Verbrauch der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 2013 abgeschlossen. Auf dieser Basis können nun die Sonderauswertungen vorgenommen werden, die die Grundlage für eine Überprüfung und Neuermittlung der Regelbedarfe bilden. All das läuft im Rahmen des sogenannten Statistikmodells, das – das wurde bereits gesagt – das Warenkorbmodell abgelöst hat, zu dem Sie gerne zurück wollen – wir allerdings nicht. Ich sage Ihnen auch, warum.

(Beifall bei der SPD)

Eine rein normative Festlegung des Inhalts eines Warenkorbs, das heißt aller notwendigen Güter und Dienstleistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums sowie ihrer Menge im täglichen und im monatlichen Gebrauch sowie ihr jeweiliger Preis, führt zu einer unglaublichen Bandbreite dessen, was als notwendig angesehen wird bzw. angesehen werden kann. Die Überlegungen der Expertinnen und Experten reichen je nachdem von 132 bis 685 Euro. Das zeigt, dass keine wirkliche Objektivierung des Bedarfs durch das Warenkorbmodell gegeben ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Gegenteil: Das Modell lädt dazu ein, als Gesetzgeber darüber entscheiden zu wollen, wofür Leistungsberechtigte ihr Geld ausgeben dürfen und wofür nicht. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, in einer freien Gesellschaft erzieherisch oder moralisch ein Konsumverhalten oder eine Lebensweise zu bewerten, sondern es ist unsere Aufgabe, soziale Teilhabe auch derer zu ermöglichen, die nicht auf der Sonnenseite stehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Schmidt, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping zu?

Klar.

Frau Schmidt, ich freue mich über Ihre Aussage, dass es nicht unsere Aufgabe ist, da erzieherisch einzuwirken. Aber ich frage mich, wie diese Aussage von Ihnen mit der Praxis bei der Berechnung zusammenpasst. Denn es wurde, wie Sie wissen, von dem reinen Statistikmodell Abstand genommen, weil man nicht einfach nur gesagt hat: „Wir legen einmal zugrunde, was die ärmsten Haushalte ausgeben“, sondern man auch noch auf die Idee kam, festzulegen, dass Verzehr im Restaurant nicht unterstützt wird, dass das Halten von Haustieren nicht regelsatzrelevant ist, dass ein Weihnachtsbaum nicht regelsatzrelevant ist und dass Übernachtungen, und sei es auf einem Campingplatz, nicht regelsatzrelevant sind.

Das heißt, Sie haben auf das Statistikmodell sehr wohl das Warenkorbmodell angewandt, nur negativ, indem Sie gesagt haben: Das und das streichen wir. – Das ist natürlich, rein über den finanziellen Zwang, eine sehr schwarze Pädagogik, die Sie angewendet haben.

Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in unserem Antrag sagen: „Wir wollen den Warenkorb als ein Prüfinstrument nehmen, um sicherzustellen, dass das, was ausgegeben wird, wenigstens ein Mindestmaß der entsprechenden Bedarfe garantiert“?

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Kipping, danke für die Zwischenfrage. – Sie wissen offensichtlich mehr als ich. Sie haben über die Vergangenheit geredet und gesagt, wie das Ergebnis beim letzten Mal zustande gekommen ist. Ich hoffe, dass wir hier und heute darüber reden, welche Festlegung wir beim nächsten Mal wollen. Wir sind gerade dabei, darzustellen – auch ich werde das im Verlauf meiner Rede noch tun –, welche Grundlage wir sehen, um einen gerechten Regelbedarf zu ermitteln. Insofern wissen Sie, wie gesagt, entweder schon mehr als ich, oder das war ein zusätzlicher Beitrag zu der Debatte, die wir in Zukunft, wenn es um die nächste Festlegung geht, führen werden.

Wie war Ihre zweite Frage? Ich habe sie vergessen.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ist auch besser so! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

– Ja, das gibt mir aber noch ein bisschen Zeit.

Ich nutze diese Gelegenheit jetzt natürlich gnadenlos, um noch einmal Werbung für unseren Antrag zu machen,

(Albert Stegemann [CDU/CSU]: Davon wird er nicht besser!)

der vorsieht, dass man den Warenkorb auch als eine Art Bedarfs-TÜV einzieht, um sicherzustellen, dass die Mindestbedarfe garantiert werden. Ist das nicht ein großartiger Punkt, dem man eigentlich zustimmen könnte?

Nein, das ist er leider nicht; dazu hat Herr ­Strengmann-Kuhn eigentlich schon alles gesagt. Dann wird nämlich ausgiebig über jeden Bestandteil des Warenkorbs diskutiert. Egal ob Prüfinstrument oder Grundlage, die Debatte ist am Ende dieselbe. Über den Sinn oder Unsinn jedes einzelnen Bestandteils eines Warenkorbes zu debattieren, ist, glaube ich, nicht das richtige Verfahren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Am Statistikmodell wird häufig kritisiert, dass ein an einem begrenzten Budget orientiertes Ausgabeverhalten nicht den eigentlichen Bedarf widerspiegelt. Das ist ein wichtiger Hinweis. Wenn mein Kind neue Fußballschuhe braucht, um weiter im Verein mitspielen zu können, dafür aber kein Geld da ist, dann taucht dieser Bedarf in der Statistik nicht auf. Er taucht auch nicht auf, wenn die Oma ihm dann die Fußballschuhe schenkt und dies nachweislich ein Bedarf ist, der zur sozialen Teilhabe des Kindes beigetragen werden muss, weil diese soziale Teilhabe eben nichts Abstraktes, sondern etwas Konkretes ist. Deshalb muss man, wenn man das Statistikmodell anwendet, aufpassen, dass es nicht solche Auswirkungen hat.

Es ist also Sorgfalt bei der Umsetzung geboten. Das gilt vor allem bei der Auswahl der Referenzgruppe; dazu ist schon einiges gesagt worden. So müssen zum Beispiel alle Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher aus der Stichprobe herausgenommen werden – das sind Aufstocker, Arbeitslosengeldbezieher, Wohngeldbezieher und -bezieherinnen usw. –, da sonst die Gefahr von Zirkelschlüssen – sie ist genannt worden – gegeben ist und man sich dann der Gefahr aussetzt, dass durch Budget­res­triktion der Bedarf nicht mehr widergespiegelt wird; das Problem habe ich benannt.

Dazu gehört auch die Herausrechnung sogenannter verdeckter Armut, also der Menschen, die ein Recht auf Leistungen des Staates hätten, diese aber – meist aus Scham – nicht in Anspruch nehmen. Eine in der Referenzgruppe übliche Teilhabe und ein übliches Ausgabeverhalten müssen möglich sein.

Manche Menschen sind der Auffassung: Je niedriger das Existenzminimum, desto größer die Motivation, sich allein oder mithilfe des Jobcenters aus dieser Lage zu befreien. Das setzt voraus, dass das für jeden Menschen möglich wäre. Aber das ist es eben nicht. Die allermeisten Menschen sind unverschuldet arbeitslos oder haben Hemmnisse, die ihr Leben ohnehin negativ beeinflussen; wir reden darüber an vielen anderen Stellen.

Das gilt erst recht für diejenigen, die aufgrund von Alter, Krankheit und Behinderung keine Möglichkeit haben, an ihrer Situation durch eigenes Handeln etwas zu ändern. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem diesen Menschen die Teilhabe am sozialen Leben unmöglich gemacht wird, in dem Menschen kein Ehrenamt ausüben können, weil sie die Fahrtkosten nicht aufbringen oder sich das Getränk in der Vorstandssitzung oder beim Gesangsverein nicht leisten können.

(Beifall der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da könnte die CDU jetzt auch mal klatschen!)

Der ehemalige Vizepräsident der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, hat zu den Regelsätzen 2011 Folgendes gesagt – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin –:

Nur Lebenskünstler können auf Dauer von 364 Euro im Monat leben. Als Überbrückung ist das vertretbar, aber auf lange Sicht ist Transferbezug menschenunwürdig.

Das lehrt auch meine Erfahrung. Ein Jahr lang – das sagen auch viele der Betroffenen – kann man damit zurechtkommen. Wenn dann aber verschiedene Gebrauchsgegenstände, die man zu Zeiten des Erwerbseinkommens gekauft hat, anfangen kaputtzugehen, wird es eng oder unmöglich. Deswegen glaube ich, dass wir auch darüber nachdenken müssen, ob verschiedene langlebige Gebrauchsgegenstände wirklich über Ansparungen oder Darlehen finanziert werden können.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Höhe der Regelsätze betrifft insbesondere aber die Kinder. Noch immer ist in unserem Land Realität, dass nicht Fleiß und Klugheit, sondern die soziale und regionale Herkunft über die Bildungs- und Berufschancen eines Kindes und Jugendlichen entscheiden. Es darf nicht sein, dass Kinder beschämt werden, weil ihre Eltern sich bestimmte Dinge nicht leisten können. Stigmatisierende und bürokratische Hilfesysteme sind kein Beitrag zur Chancengleichheit. Hier ist ein besonders großer Handlungsbedarf. Das betrifft sowohl die Kinderregelsätze als auch das Bildungs- und Teilhabepaket.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Gerdes [SPD])

Es wird gerne das Stereotyp eines Leistungsberechtigten bemüht, der, wenn man ihm Geld in die Hand drückt, das für seine Kinder gedacht ist, loszieht und Zigaretten kauft oder auf Pferde wettet. Damit begründet man dann Sachleistungen und bürokratische Ungetüme. Das Gegenteil ist aber nachweislich der Fall: Untersuchungen haben gezeigt, dass Eltern von ihrem Teil des Regelsatzes Geld abzweigen, um es ihren Kindern zur Verfügung zu stellen.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!)

Hier besteht also dringendster Handlungsbedarf.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, Sie haben in Ihrem Antrag wieder einmal die Forderung nach einer Kommission aufgestellt. Wir kennen das bereits vom Armuts- und Reichtumsbericht. Die Antwort, die ich Ihnen gebe, ist ähnlich: Dass Sie nicht regieren und keine Verantwortung übernehmen wollen, nehmen wir zur Kenntnis.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nix da! Nix da!)

Dass Sie aber auch nicht wollen, dass wir Verantwortung übernehmen, wundert mich schon. Sie wollen lieber Kommissionen und Experten als einer gewählten Regierung und demokratisch legitimierten Volksvertreterinnen und Volksvertretern die Verantwortung für solche zentralen Entscheidungen in die Hand geben.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie war das noch mal mit dem Mindestlohn?)

Ich persönlich setze auf verantwortliches Regierungshandeln und freue mich auf eine muntere, kontroverse und erhellende Parlamentsdebatte, die wir im kommenden Jahr zu diesem Thema sicher führen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU – Max Straubinger [CDU/CSU]: Jetzt kommt etwas Erhellendes!)

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