Aydan Özoğuz - Einzelplan Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der französische Journalist Nicolas Hénin wurde zehn Monate lang von den Terroristen des IS in Syrien gefangen gehalten, vom Sommer 2013 bis April 2014. Einer seiner Bewacher war Dschihadi John, der kürzlich bei einem Drohnenangriff getötet wurde. Viele Mitgefangene Hénins leben nicht mehr. Kürzlich hat Hénin in einem Artikel für den Guardian geschrieben, was die IS-Kämpfer mit einem Anschlag wie in Paris bezwecken und was sie darüber denken. Zitat: Ich kenne sie. Was sie erwarten, sind Bomben. Was sie fürchten, ist Einheit. – Er schreibt: Die Bilder aus Deutschland, wo die Menschen Migranten willkommen geheißen haben, werden sie gequält haben. Toleranz und Zusammenhalt, das wollen sie nicht sehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, wir können sehr stolz darauf sein, dass die Menschen in unserem Land zeigen: Wir lassen uns nicht einschüchtern, und wir stehen für etwas anderes. Wir stehen für Mitmenschlichkeit. Wir stehen für Brüderlichkeit. Genau das beweist die Bevölkerung in Deutschland, beweisen die Menschen mit ihrem unglaublichen ehrenamtlichen Engagement. Dafür möchte ich noch einmal Danke sagen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb ist es folgerichtig, dass dieser Bundeshaushalt von dieser großen aktuellen Aufgabe geprägt ist: von der Aufnahme und Versorgung Hunderttausender in unserem Land, die Schutz suchen vor Terror, Krieg und Gewalt. Wer wünschte sich nicht, wenn ich das einmal in Bezug auf die Vorredner sagen darf, dass es keine Flüchtlingsströme gäbe? Ich glaube, die Flüchtlinge selbst wären die Ersten, die ihre Hand heben und sagen würden: Wir wollen gar nicht flüchten. Gern würden wir weiter in unserem Land, in unseren Häusern und Wohnungen leben und nicht all die Tausenden von Kilometern zu euch kommen müssen in der Hoffnung, dass wir überhaupt durchkommen. – Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die allermeisten einmal ein halbwegs normales friedliches Leben führen konnten. Viele, gerade aus Syrien, würden, wenn es auch nur den Hauch einer Friedensbotschaft gäbe, sicherlich gern in ihre Heimat zurückkehren.
Wir sind ein wohlhabendes Land. Wir sind ein starkes Land. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Die Wirtschaft ist robust. Das alles ist hier schon mehrfach gesagt worden. Wir sehen die Versorgung von Flüchtlingen als eine nationale Aufgabe an, die Bund, Länder und Kommunen nur gemeinsam bewältigen können. Johannes Kahrs hat es gestern und auch heute noch einmal betont: Natürlich muss auch der Bund bei allen Hilfen und bei aller Unterstützung, die er den Ländern zukommen lässt – und die diese dann hoffentlich an die Kommunen weitergeben –, immer darauf achten, dass er handlungsfähig bleibt, dass er heute und in der Zukunft handlungsfähig bleibt. Deswegen haben wir mit dem Haushalt am Ende wirklich gute Ergebnisse erzielt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Nach vielen Gesprächen und auch Verhandlungsrunden, beispielsweise mit den Ministerpräsidenten, zeigen wir mit 8 Milliarden Euro im Bundeshaushalt zur Versorgung von Flüchtlingen – diesen Betrag sollte man einmal deutlich nennen; das sind ungefähr 2,5 Prozent des Gesamthaushaltes –, was wir eigentlich tun. 3 Milliarden Euro dienen zur Entlastung der Länder und Kommunen. Etwas ganz Besonderes ist Folgendes – auch das muss einmal erwähnt werden; das, was wir hier geändert haben, ist nämlich etwas Historisches –: Der Bund verpflichtet sich, pro Kopf 670 Euro pro Monat und Asylbewerber zu zahlen, bis eine Entscheidung da ist. Das war vorher nicht so. Bisher haben wir immer gesagt: Die Länder müssen unterbringen und versorgen, und irgendwann wird der Bund entscheiden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass wir eine Entscheidung über Asylanträge innerhalb von drei Monaten anstreben. Würden wir in jedem Fall eine Entscheidung innerhalb von fünf Monaten schaffen, wäre auch das schon ein Riesenerfolg. Langsam geht es aber in die richtige Richtung.
Gleichzeitig verdoppeln wir nun die Mittel für den sozialen Wohnungsbau. Das BAMF bekommt 4 000 neue Stellen; auch bei der Bundespolizei und beim Technischen Hilfswerk wird aufgestockt. Alle werden jetzt ein Stück weit gerüstet.
Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt – daran müssen wir heute schon denken, auch wenn wir in Wahrheit noch gar nicht damit begonnen haben –: die Mittel für die Integrationskurse. Man halte sich einmal vor Augen, welche Debatten wir in der Vergangenheit schon geführt haben. Die Diskussionen, in denen es um ein paar Millionen Euro mehr oder weniger bei den Integrationskursen ging, waren hitzig. Jetzt verdoppeln wir die Mittel. Es geht um 559 Millionen Euro. Das ist eine unglaubliche Zahl, die zeigt: Wir wollen, dass die Menschen, die eine gute Bleibeperspektive haben, schnell Deutsch lernen, schnell zu unseren Nachbarn werden, schnell eine Arbeit aufnehmen können; das ist ein riesiges Zeichen. Gleichzeitig wollen wir die Eingliederung in Arbeit vorantreiben. Nicht zu vergessen sind natürlich auch die berufsbezogenen Deutschkurse, für die 179 Millionen Euro bereitgestellt werden. Dieses Paket soll heute und in die Zukunft wirken. So etwas haben wir in diesem Hause noch nie gleichzeitig geschafft.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Als Beauftragte habe ich traditionell das kleinste Budget; ich erwähne das immer wieder. Für Bundespolitiker ist es extrem überschaubar. Deswegen muss ich mit meinem kleinen, aber sehr feinen Arbeitsstab sehr genau suchen, welche Lücken sich ergeben. Wir müssen ganz genau hinschauen und uns fragen: Was ist möglicherweise noch nicht ganz abgedeckt? Dank der Haushälter konnten wir in diesem Jahr schon Zehntausenden von Ehrenamtlichen helfen, die, wie wir wissen, langsam an ihre Grenzen stoßen.
(Johannes Kahrs [SPD]: So ist das!)
Wir haben nun gemeinsam mit den freien Wohlfahrtsverbänden Strukturen schaffen können, die gewährleisten, dass auch Ehrenamtliche geschult werden können, dass sie Ansprechpartner finden, dass Ehrenamt auf Hauptamt stößt und es damit auch ein Stück weit koordiniert wird. Unsere Partner sind AWO, Caritas, Diakonie, Paritätischer und Rotes Kreuz. Ich glaube, diese Partner sind genau die richtigen; sie haben bereits angefangen – übrigens überall in Deutschland, in allen Bundesländern –, den Ehrenamtlichen zu helfen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Und die Volkssolidarität!)
Aber es gibt viele Ehrenamtliche – da komme ich Ihnen jetzt wahrscheinlich entgegen –, die nicht in Kontakt mit diesen Wohlfahrtsverbänden stehen. Auch sie brauchen Unterstützung und gute Strukturen, die ihnen dabei helfen, ihre Arbeit geregelter zu erledigen, statt dabei immer nur aufgerieben zu werden.
Wir wollen auf keinen Fall riskieren, dass Ehrenamt am Ende mit Enttäuschung endet; das müssen wir verhindern. Deswegen sage ich immer wieder: Ehrenamtliche sind natürlich Menschen, die helfen. Aber sie sind gleichzeitig noch etwas viel Wichtigeres: Sie sind in meinen Augen der Garant dafür, dass das Klima gegenüber Flüchtlingen positiv bleibt. Sie sind der Garant dafür, dass wir die Geschichten der Geflüchteten hören, dass die Geflüchteten in der gesamten Gesellschaft, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft wieder zu Menschen und zu echten Geschichten werden. Deswegen müssen wir sie noch viel stärker unterstützen.
Ich bin den Haushältern – das ist jetzt dreimal unterstrichen – extrem dankbar, dass sie auch für meinen Etat, also den der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration, eine deutliche Mittelerhöhung eingeplant haben.
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: So sind wir!)
Es ist wirklich deutlich zu sehen, dass die Aufgaben nicht nur groß sind, sondern dass wir sie auch angehen wollen.
Vor 60 Jahren wurden in Deutschland die ersten Gastarbeiter angeworben. Diesen Jahrestag werden wir in den nächsten Wochen im Kanzleramt auch noch begehen. Ich bin Hermann Gröhe sehr dankbar, dass wir auf dem Integrationsgipfel jetzt auch zum Thema Gesundheit getagt haben; denn das betrifft sehr viele Rentner, die häufig von dem normalen System gar nicht richtig profitieren können.
Ich habe mir drei Schwerpunkte gesetzt, die ich jetzt nur erwähnen möchte, aber nicht, ohne gesagt zu haben, dass die normalen Aufgaben ja weiterhin bestehen, was man wirklich nicht vergessen darf:
Erstens. Wir wollen das Ehrenamt weiter stärken. Das habe ich ja schon benannt.
Zweitens. Wir wollen vor allen Dingen einen Fokus auf die Situation geflüchteter Frauen legen; denn sie sind häufig das schwächste Glied – gerade wenn sie alleine oder mit ihren Kindern geflüchtet sind. Das ist nicht nur bei uns in den Unterkünften so, sondern schon den ganzen Weg über ist es natürlich furchtbar gefährlich für sie. Das, was sie erlebt haben, ist teilweise schrecklich. Wir müssen uns intensiv um die Frauen kümmern, wenn sie schwanger und traumatisiert sind.
Ich glaube, hier ist noch einiges zu tun, und ich bin sehr glücklich, dass uns das Frauenministerium hier eine ganz enge Zusammenarbeit angeboten hat, damit wir genau diesen Schwerpunkt gemeinsam setzen können.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Drittens. Daneben brauchen wir auch eine stärkere Einbindung von sogenannten – ich nenne sie immer so – Kulturdolmetschern. Wir haben sehr viele Menschen in unserem Land, die die Sprachen beherrschen, die wir jetzt brauchen. Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer sagte mir, dass kein Dolmetscher mehr zur Verfügung steht, der Arabisch spricht. Erstens haben sie nicht so viele, und zweitens sind die wenigen, die Arabisch sprechen, komplett ausgebucht. Das heißt, wir müssen auf unsere Bevölkerung zugehen und die Menschen finden, die die entsprechenden Kulturen und Sprachen kennen.
Daneben müssen wir natürlich auch in die Moscheen gehen. Wir müssen wissen, was sich dort tut, wer dort helfen möchte und wer dort teilweise schon längst Flüchtlinge unterbringt. Ich kann aus Hamburg berichten, dass in der Al-Nour-Moschee – sie ist bei uns sehr bekannt – 500 Flüchtlinge untergebracht wurden, als woanders plötzlich keine Betten mehr verfügbar waren. Sie wurden dort versorgt, und ihnen wurde ein Dach über dem Kopf und Wärme gegeben. – Ich glaube also, wir müssen noch mehr in die Moscheen hineingehen und uns die Arbeit der Gemeinden anschauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen sagen: Lassen Sie es uns auch nicht zu einfach machen. Wenn wir Hasspredigten und salafistische Umtriebe wirklich bekämpfen wollen, dann brauchen wir Nähe, Dialog und Vertrauen zu den Moscheen und ihren Besuchern; denn sie wissen als Erste, wer dort falsche Dinge erzählt oder wer vielleicht an irgendeiner anderen Stelle versucht hat, junge Leute in einer Art und Weise anzusprechen, wie es nicht sein soll. Es muss uns in Deutschland nach so vielen Jahrzehnten wirklich gelingen, dieses Vertrauen herzustellen.
(Beifall bei der SPD)
Eine letzte Botschaft. Ich bin froh, dass Angela Merkel deutlich gemacht hat, wie wichtig dieses ständige Bohren dicker Bretter auf europäischer Bühne ist. Jeder von uns erlebt das wahrscheinlich in seinem Wahlkreis: Man möchte gerne griffige Antworten haben, etwas, was schneller umsetzbar scheint. Meist ist es aber nicht so. Gerade wenn man auf die europäische Bühne kommt, wird es etwas schwerfällig. Man darf aber nicht nachlassen, auch wenn es noch so mühselig ist.
In meinen Augen ist es die Bewährungsprobe der heutigen Zeit – das wurde vorhin ja schon richtig gesagt; ich glaube, von Herrn Kauder –, nicht in Einzelegoismen der Nationalstaaten zu verfallen. Wir brauchen ein funktionierendes Europa – auch wenn es um Asyl- und Flüchtlingsfragen geht. Darüber sind wir uns doch einig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Herr Kauder, mein Schlusssatz bezieht sich auf den Advent; das passt auch wieder zu Ihnen. Ich werde aber nicht aus der Bibel zitieren. Aber ich möchte, natürlich auf eine nette Art, wie ich das meistens mache, einen Appell an Sie richten.
Zum Advent werden viele Menschen die Kisten von ihren Dachböden und aus ihren Kellern holen und die Krippen aufbauen und vielleicht auch die heilige Familie aufstellen. Auch ich finde das sehr schön, das ist wunderbar. Vielleicht sollten uns jetzt, einen Monat vor Weihnachten, die vertrauten Verse des Lukasevangeliums, die ich nicht zitieren werde, nachdenklich machen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nur zu! Doch, doch!)
– Nein. – Eines wissen wir doch: Die heilige Familie hatte es damals schwer;
(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)
sie war ohne Bleibe und ohne Unterkunft, aber sie war zusammen. Das sollte uns in unseren Debatten leiten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Als nächster Redner spricht Rüdiger Kruse von der CDU/CSU.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6210931 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 139 |
Tagesordnungspunkt | Einzelplan Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt |