Volker KauderCDU/CSU - Regierungserklärung zum Europäischen Rat
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, das zu Ende gehende Jahr 2015 war ein schwieriges für uns alle, vielleicht sogar das schwierigste Jahr, zumindest seit Erreichen der deutschen Einheit. Wenn man bedenkt, was uns in diesem Jahr schon alles beschäftigt hat und was uns über den Jahreswechsel hinaus im neuen Jahr sicher weiter beschäftigen wird, kann man ermessen, wie groß die Herausforderungen sind, vor denen wir stehen.
Aber natürlich können wir auch daran erinnern, dass wir eine ganze Reihe von Dingen vorangebracht und geschafft haben, dass wir mit konkreten Maßnahmen erreicht haben, dass sich das eine oder andere verändert und verbessert hat, dass wir nicht einfach nur zugeschaut haben und die Dinge haben laufen lassen. Ich finde, es gehört auch zur Bilanz dieses Jahres, dass wir einiges vorangebracht haben.
Zur Bilanz dieses Jahres gehört natürlich auch – die Bundeskanzlerin hat davon gesprochen –, dass wir Europa in einem Zustand sehen, wie ich es in meiner ganzen 25-jährigen Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag so noch nicht gesehen habe. Es ist richtig, lieber Thomas Oppermann, dass dies zunächst einmal nicht eine Anklage an Europa, sondern eine Anklage an die Nationalstaaten in Europa ist, die wesentlich dafür verantwortlich sind, dass wir dieses Bild haben. Da frage ich mich schon, ob es richtig ist, dass man immer nur auf ein, zwei oder drei zeigt, die man, wenn man in der SPD sitzt, besonders dort sieht, wo es rechtsnational zugeht.
Auch mir gefällt das eine oder andere nicht, was in Polen oder auch in Ungarn gesagt und gemacht wird. Aber zur ganzen Wahrheit gehört dazu, dass mir auch das eine oder andere nicht gefällt, was in der Slowakischen Republik und in der Tschechischen Republik, wo Sozialdemokraten und Linke an der Regierung sind, passiert. Dort fallen nämlich die Sätze, lieber Thomas Oppermann, die du gerade angesprochen hast: Wir wollen keine Flüchtlinge, weil wir keine Muslime wollen. – Es geht nicht, dass man so etwas sagt, und dabei ist es egal, ob das jemand von der linken oder der rechten Seite sagt. Das ist für Europa nicht akzeptabel.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
All das und die Tatsache, dass die slowakische Regierung jetzt auch noch vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Verteilungsmechanismen klagt, zeigt den Zustand, in dem sich Europa befindet. Deshalb ist es richtig, dass wir die Bundeskanzlerin unterstützen und als Deutscher Bundestag klar sagen, dass sie sich darauf verlassen kann, dass wir diese Unterstützung auch gewähren, wenn es darum geht, Europa in einen besseren Zustand zu bringen.
Natürlich muss in Europa mehr als bisher das eingehalten werden, was man miteinander vereinbart hat, damit Europa in eine bessere Situation kommt. Wenn man jetzt sagt, ein Teil der Probleme läge darin begründet, dass man eine Sparpolitik, eine Austeritätspolitik macht – –
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das hat die SPD gesagt!)
– Ich habe ja gar nicht gesagt, dass Sie das gesagt haben.
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Aber gedacht!)
– Sie kommen schon noch dran; warten Sie es ab. – Wenn man das sagt, dann kann ich nur sagen: Wenn man gleich am Anfang den Fehler macht, sich nicht konsequent an den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu halten, sondern die Sache laufen lässt und eine Verschuldung hinnimmt, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ein Dritter übernimmt die Schulden, oder man leistet selber einen Beitrag.
(Zuruf von der LINKEN)
Weil ich es nicht für richtig halte, Schulden zu machen und einen Dritten dafür haften zu lassen – das hat übrigens auch keine pädagogische Wirkung –, bleibt aus meiner Sicht nichts anderes übrig, als sich zu ändern und eine Politik zu machen, die diese Verschuldung nicht hervorbringt.
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eben genau der Irrtum, Herr Kauder! Es gibt noch mehr Möglichkeiten!)
In außergewöhnlichen Fällen, zum Beispiel bei Naturkatastrophen oder anderen großen Katastrophen, muss der Stabilitätspakt, muss die Schuldenbremse nicht unbedingt eingehalten werden. In diesem Zusammenhang muss ich aber sagen: Ich bin ein unverbrüchlicher Freund der deutsch-französischen Zusammenarbeit, weil es ohne sie dieses Europa nicht gäbe; aber ich halte es nicht für richtig, dass man in Frankreich als Erstes auf die Idee kommt, zu sagen: „Wir halten den Stabilitätspakt nicht mehr ein“, als ob man ihn bisher eingehalten hätte. Das halte ich nicht für die richtige Antwort;
(Beifall bei der CDU/CSU)
denn dieser Weg führt nicht zu mehr Wachstum und mehr Wohlstand in Europa.
Dass wir Frankreich unterstützen, auch in dem Kampf gegen den IS, halte ich für völlig in Ordnung. Die Rechtsgrundlage dafür ist ausreichend. Ich hätte auch sagen können, dass ich mich durch die Angriffe in Frankreich als Deutscher mit angegriffen fühle und mich deshalb auf der Grundlage des Grundgesetzes verteidige. Wenn wir in Europa so eng zusammenarbeiten, sind wir in Europa – jetzt kommt etwas, was früher manch einer nicht so gerne gehört hat; jetzt wird das aber deutlich – eine Schicksalsgemeinschaft. Wenn wir eine Schicksalsgemeinschaft sind, wenn wir ein Schicksal teilen, dann müssen wir uns, wenn wir angegriffen werden, gemeinsam wehren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dies machen wir jetzt. Darüber muss natürlich hier, im Deutschen Bundestag, entschieden werden. Hier diskutieren wir über die Frage, wo die Bundeswehr eingesetzt wird. Ich bin sehr froh, dass – das habe ich gestern gehört – der Vorschlag, eine Änderung des Syrien-Mandats durch einen SPD-Mitgliederentscheid beschließen zu können, von der Bundestagsfraktion der SPD kassiert worden ist. Richtig! Lieber Thomas Oppermann, wir haben eine Parlamentsarmee und keine Parteiarmee. Deswegen ist es richtig, dass wir diese Entscheidungen hier treffen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das zeigt ja auch, dass die SPD-Bundestagsfraktion manchmal vernünftiger ist als der SPD-Parteitag. Auch das ist in Ordnung.
(Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU])
Wenn wir uns die Situation in Europa anschauen, müssen wir uns natürlich auch die Frage stellen: Sind wir in Europa stark genug für moderne Entwicklungen, für die Arbeitsplätze der Zukunft? Wir dürfen nicht nur die Arbeitsplätze der Gegenwart im Blick haben. Wenn Europa sozial gerecht sein soll, Herr Bartsch, wird es nicht so gehen, wie Sie immer glauben, also dass die etwas besser Situierten immer mehr an die anderen abgeben. Das hat schon in der DDR nicht funktioniert. Wir brauchen ein System, in dem alle miteinander wachsen,
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ja!)
nicht nach dem Motto: Sozial gerecht ist, wenn die Besserstehenden, die Reicheren, auch so arm sind wie die Armen. Das hat noch nie zu einem Erfolg geführt.
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das ist doch Unsinn!)
Vielmehr müssen wir schauen, dass wir vorankommen.
Ich muss sagen: Ja, der Innenminister hat über das Thema Datenschutz verhandelt. Wir haben jetzt ein Ergebnis vorliegen, mit dem man leben kann. Aber ich muss auch sagen: Wir werden uns in Europa noch intensiv mit der Frage befassen müssen, ob wir wollen, dass auch kleine Start-up-Unternehmen im digitalen Bereich vorankommen können, oder ob wir wollen, dass moderne Entwicklungen in der Datenverarbeitung in Europa aufgrund des Datenschutzes überhaupt nicht möglich sind.
Wenn wir sagen, dass bei uns dieses und jenes nicht stattfinden darf, dann werden wir natürlich nicht erleben, dass in China, in anderen asiatischen Ländern und in Amerika gesagt wird: Huch, wenn die Europäer nichts machen, machen wir auch nichts. – Wenn wir nicht aufpassen, wenn wir nicht bereit sind, uns zu öffnen und moderne Zusammenhänge in Europa nach vorne zu bringen, dann werden wir zurückfallen und nicht vorankommen. Das Ergebnis wird sein, dass die Entwicklungen, die immer schneller laufen, so schnell an uns in Europa vorbeilaufen, dass wir gar nicht mehr aufholen können. Dann kann man nicht sagen: Jetzt fangen wir noch einmal von vorne an. – Das wird nicht klappen.
Deswegen kann ich nur sagen: Wir müssen alles daransetzen – da hat die Bundeskanzlerin recht –, dass wir moderne Entwicklungen in Europa voranbringen, dass wir ein mutiges, ein risikofreudiges Europa sind und nicht eines der Bewahrer, das immer weiter zurückfällt und für die junge Generation die notwendigen Arbeitsplätze nicht schafft. Ich bitte darum, dass wir uns in der Großen Koalition noch einmal mit diesem Thema befassen.
Das Motto für Europa muss sein: Orientiert an der Zukunft mutig vorangehen, um die Arbeitsplätze der Gegenwart auch in der Zukunft halten zu können. Das muss uns gelingen. Das ist eine große Aufgabe auch für unsere Große Koalition.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vielen Dank, Volker Kauder. – Nächster Redner in der Debatte: Joachim Poß für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6299691 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 145 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat |